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Gaslieferungen: Zukunft mit Fragezeichen

Die Auseinandersetzung um russische Gaslieferungen nach Europa droht weiter zu eskalieren. Was kann Europa in dieser Situation tun, um möglichst sicher über den Winter zu kommen?
 

Er wird kommen – der Kriegswinter. Als Russland vor mehr als einem halben Jahr in die Ukraine einmarschierte, galt diese Feststellung noch alles andere als sicher. Die ersten russischen Soldaten, die Richtung Kiew zogen, sollen jedenfalls, so will es der britische Geheimdienst herausgefunden haben, Paradeuniformen mitgeführt haben – weil man hoffte, bereits wenige Tage nach der Invasion eine pompöse Siegesparade in der ukrainischen Hauptstadt abhalten zu können.

Gasleitungen China-Russland, China's Heilongjiang Province, Nov. 19, 2019.
© Wang Jianwei Xinhua/Eyevine /picturedesk.com

Sie hat sich nicht erfüllt. Die Kampfbereitschaft der ukrainischen Armee und die der Zivilbevölkerung wurde unterschätzt. Nun geht die Eskalation in die nächste Runde. Nach dem Lieferstopp rund um die Wartungsarbeiten an Nord Stream 1 im September verdichten sich jetzt die Hinweise darauf, dass Russland die Energielieferungen nach Europa weiter massiv verknappen will – bis zu einem möglichen Totalstopp. Es sei denn, so ließ der russische Präsident Wladimir Putin verlauten, Europa hebe die wegen des Kriegs in der Ukraine gegen Russland verhängten Sanktionen auf. Für nahezu alle europäischen Staats- und Regierungschefs ist das allerdings ein absolutes No-Go.

Eine baldige Entspannung wird es daher nicht geben. Nicht umsonst gab EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereits vor einigen Wochen die Parole aus: „Wir müssen uns auf eine mögliche vollständige Unterbrechung der russischen Gasversorgung vorbereiten.“

Aus dieser Tatsache abzuleiten, wie der kommende Energie-Winter in Österreich und in Europa konkret verlaufen wird, bleibt allerdings nach wie vor nicht einfach. Darin sind sich all jene Energieexperten, Politologen und Militärstrategen, mit denen die StromLinie in den vergangenen Tagen und Wochen gesprochen hat, einig.
 

Angespannte LageKein Zweifel besteht jedenfalls in einem ganz zentralen Punkt: Europa wird sich auch langfristig mit hohen bis sehr hohen Energiepreisen arrangieren müssen. Andreas Löschel, Professor für Umwelt-, Ressourcenökonomik und Nachhaltigkeit an der Ruhr-Universität Bochum, nennt als einen sehr eindeutigen Hinweis dafür die Futures auf Erdgas, die international gehandelt werden.

„Wenn man wissen will, wie sich die Energiepreise in der Zukunft entwickeln könnten, ist ein guter Weg zu schauen, wie der Markt diese Frage einschätzt“, sagt der Volkswirt, der auch einer der Leitautoren des IPCC-Sachstandberichts zum Klimawandel ist. „Die Futures auf Erdgas zeigen recht eindeutig, dass der Markt sowohl für diesen als auch für den nächsten Winter mit hohen Preisen rechnet. In drei Jahren könnte es dann eine Absenkung geben.“ In Ländern wie Österreich und Deutschland, ergänzt Löschel, die für ihre Stromerzeugung substanziell auf Gas angewiesen seien, werde diese Preisentwicklung natürlich auch massiv auf die Strompreise durchschlagen.

Andreas Löschel

, Professor für Umwelt-, Ressourcenökonomik und Nachhaltigkeit  an der Ruhr-Universität Bochum
„Die Futures auf Erdgas zeigen recht eindeutig, dass der Markt sowohl für diesen als auch für den nächsten Winter mit hohen Preisen rechnet.“ Andreas Löschel Professor für Umwelt-, Ressourcenökonomik und Nachhaltigkeit an der Ruhr-Universität Bochum

Die konkreten Zahlen, die Löschel aufgrund seiner Marktbeobachtungen nennt, verheißen wenig Erfreuliches. In den kommenden zwei Jahren, sagt der Professor, würden die Großhandelspreise deutlich über 200 Euro pro Megawattstunde Strom ausmachen. Im Jahr 2025 könnten sie dann wieder fallen.
 

Schlüsselfaktor Putin

Ähnlich wie Löschel schätzt die Lage auch der Direktor des Instituts für Höhere Studien, Klaus Neusser, ein. Neusser fügt aber hinzu, dass die gegenwärtigen markttechnischen Überlegungen mit einer großen Unbekannten versehen seien, nämlich dem Verhalten des russischen Präsidenten. „Sollte überhaupt kein Gas aus Russland fließen, müssten wir uns sogar auf einen Preis von rund 270 Euro pro Megawattstunde einstellen.“

Gashafen in Swinemünde. LNG-Terminal.
© AdobeStock/Inka

Reinhard Haas, Professor für Energieökonomie an der TU Wien, sieht die Lage trotz der sich weiter verschärfenden Situation eine Spur gelassener. Wohl rechnet auch er kaum mit einer Senkung des Strompreisniveaus während des nächsten halben Jahres, einen anhaltenden totalen Lieferstopp hält er aber nach wie vor für unwahrscheinlich: „Ich gehe davon aus, dass Putin auch in Zukunft Gas liefern wird. Er ist auf das Geld, das er damit lukriert, angewiesen und er weiß, dass er bei einem totalen Lieferstopp Europa als Abnehmer ein für alle Mal verliert.“

Sparen und LNG

Auch die häufig zitierte Verfünffachung der Strompreise sieht Haas differenziert. Sei vom Großhandelspreis am Spot-Markt die Rede, habe eine solche Verteuerung tatsächlich bereits stattgefunden, erklärt er. Denn 2016 kostete eine Kilowattstunde am Spot-Markt rund vier Cent, jetzt sind es mehr als dreißig. Bei den End­verbraucher­preisen sei die Lage aber anders, weil hier der reine Energiepreis nur einen Teil der Stromkosten ausmache. „Bei einem Verbraucherpreis von zwanzig Cent pro Kilowattstunde, was dem Preisniveau der Jahre 2016 bis 2020 entspricht, machen die reinen Energiekosten nur etwa sieben Cent aus, die restlichen dreizehn Cent entfallen auf Steuern, Netzgebühren und andere Abgaben.“ Dementsprechend anders, erklärt Haas, gestalte sich hier auch die Teuerungsrate, sie falle gemäßigter aus.

Reinhard Haas, Professor für Energieökonomie an der TU Wien
„Ich gehe davon aus, dass Putin auch in Zukunft Gas liefern wird. Er ist auf das Geld, das er damit lukriert, angewiesen.“ Reinhard Haas Professor für Energieökonomie an der TU Wien

Viel, sagt Haas, werde auch von der bis zum Winterbeginn eingespeicherten Gasmenge abhängen. Bei etwas mehr als sechzig Prozent lag der Füllstand der österreichischen Gasspeicher in der zweiten Augusthälfte, bis Winterbeginn sollen es achtzig bis neunzig Prozent werden. Gelingt das, könnte Österreich rein rechnerisch nahezu seinen gesamten Jahresverbrauch dann aus dieser Reserve decken.

Erdgas
© AdobeStock/BillionPhotos.com

Immer mehr in den Vordergrund rückt allerdings auch die Frage, wie in Zukunft, wenn das eingespeicherte Gas in größeren Mengen entnommen wird, die Nachfüllung sichergestellt werden kann. Und auch wie stark es gelingt – um die Vorräte zu schonen –, den Verbrauch zu reduzieren, vor allem bei Privathaushalten.

Ziel Energieunabhängigkeit

Denn während die Industrie die Folgen der hohen Preise bereits direkt spürt und ihren Verbrauch dementsprechend stark verringert hat, bleibt der Verbrauch der Privathaushalte über weite Strecken noch unverändert, wie Andreas Löschel erklärt: „Die Gasnachfrage der Industrie ist seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine um mehr als zehn Prozent gefallen. Bei Haushalten sind es nur etwas über fünf Prozent.“

Das liege unter anderem auch daran, dass viele private Verbraucher durch laufende Verträge vorläufig vor Teuerungen geschützt seien und die hohen Energiepreise erst nach und nach zu spüren bekommen würden. Wie schnell es gelingt, sie dennoch zu einem sparsameren Umgang mit Energie zu bringen, ist aus heutiger Sicht offen.

Wie hoch ist die Preissteigerung wirklich?Bei Diskussionen darüber, wie hoch die Energiepreise gestiegen sind, werden oft verschiedene Zahlen miteinander vermischt. Die Großhandelspreise am Spotmarkt haben sich im Vergleich zum Preisniveau von 2016 bis 2020 inzwischen tatsächlich bereits mehr als verfünffacht, wobei hier dennoch zwischen dem Gaspreis und dem Strompreis unterschieden werden muss. Beide hängen zusammen, weil im Rahmen des Merit-Order-Systems häufig der Gaspreis den Strompreis bestimmt, sind aber nicht das Gleiche. Anders als die Großhandelspreise steigen die Endverbraucherpreise etwas moderater und zeitverzögert.

Offen ist aber auch, wie schnell ein Ausstieg aus der Abhängigkeit von Russland gelingen kann. Erneuerbare Energien, die der Garant dafür wären, lassen sich nicht von heute auf morgen in dem Ausmaß ausbauen, wie es für einen völligen Ausstieg aus der fossilen Energie nötig ist. Und selbst der Ausbau von PV-Kapazitäten, der grundsätzlich zügig vor sich gehen könnte, scheitert derzeit im Kleinen an fehlenden Monteuren und fehlenden Komponenten und im Großen an Freiflächen, die dafür neben Dächern ausgewiesen werden müssten.

Umso größer ist derzeit die Bedeutung, die in allen Modellrechnungen und Überlegungen dem Flüssiggas zukommt. Schon die bloße Tatsache, dass es mit Flüssiggas aus den USA und gegebenenfalls Katar eine Alternative zu russischen Lieferungen gebe, sei für Europa von unschätzbarem Wert, findet der Energieökonom Haas – selbst wenn eine tatsächliche Reduzierung der Russlandabhängigkeit durch Flüssiggasimporte wohl erst im Winter 2023/24 zu spüren sein werde. „Mittelfristig werden die Kapazitäten auf der Angebotsseite wachsen“, ist Haas überzeugt.
 

Angst vor Kollateralschaden

Ausgeblendet wird in vielen der aktuell diskutierten LNG-Szenarien allerdings, welche langfristigen Folgen die aktuelle Fokussierung auf Flüssiggas für die europäische Energiepolitik haben kann. Immerhin befinden sich derzeit europaweit acht neue Terminals bereits im Bau, weitere 25 sind geplant. 29 waren schon vor dem Beginn des Ukraine-Kriegs in Betrieb. Eine nicht ganz unproblematische Entwicklung, wie Klaus Neusser anmerkt: „Es gibt schon die Gefahr, dass durch einen Überaktivismus eine Infrastruktur, zum Beispiel für Flüssiggas, massiv ausgebaut wird, die man später eigentlich nicht mehr brauchen wird, weil ja auf fossile Brennstoffe verzichtet werden soll.“

Rettungsanker LNG

Bei einer Temperatur von rund –161 Grad Celsius wird Erdgas flüssig. So verflüssigtes Gas kann besonders gut transportiert werden, da es rund 600-mal weniger Platz braucht als im gasförmigen Zustand. In den nächsten Jahren soll LNG aus Norwegen, Katar und den USA helfen, russisches Erdgas zu substituieren. Allerdings fehlt in vielen europäischen Ländern die nötige Infrastruktur. Die Anzahl der einsatzfähigen LNG-Terminals soll in den nächsten Jahren mehr als verdoppelt werden. Weitgehend offen bleibt die Frage, was mit den Terminals geschehen wird, wenn Europa sich zunehmend von fossilen Energieträgern trennt und dann keinen Bedarf mehr für LNG hat.

Doch andererseits gilt auch: Aus kurz- bzw. mittelfristiger Perspektive gibt es zum Ausbau der Flüssiggas-Kapazitäten kaum Alternativen. Immerhin ist Flüssiggas nach Ansicht vieler Experten eine bessere Lösung als verstärkte Hinwendung zu Atomstrom oder gar eine großflächige Reaktivierung von Kohlekraftwerken.
Ein fossiler Energieträger ist Flüssiggas allerdings dennoch. Der entscheidende Punkt, findet der Umweltökonom Löschel, werde bei der Errichtung der Terminals daher die Laufzeit sein. Sie sollte nach Möglichkeit die grundsätzlichen europäischen Bemühungen um eine Klimawende nicht konterkarieren.

Klaus Neusser, IHS-Direktor
„Es gibt schon die Gefahr, dass durch einen Überaktivismus eine Infrastruktur, zum Beispiel für Flüssiggas, massiv ausgebaut wird, die man später eigentlich nicht mehr brauchen wird, weil ja auf fossile Brennstoffe verzichtet werden soll.“ Klaus Neusser IHS-Direktor

Im Klartext bedeutet das: Während Katar als Lieferant seinen Interessen entsprechend auf eine möglichst lange Bindung und Laufzeit drängt, sollte der Westen sich hier nicht zu stark in die Pflicht nehmen lassen: „Schließlich gibt es mit dem Bekenntnis zur Klimaneutralität ein Enddatum für fossile Energie und eine vertragliche Bindung, zum Beispiel über zwei Jahrzehnte, würde ein erhebliches Risiko darstellen.“

Auch das wird Europa in seinen Energieszenarien für die nächsten Monate und Jahre berücksichtigen müssen. Denn sonst könnte Putins Krieg in der Ukraine auch einen erheblichen klimapolitischen Kollateralschaden erzeugen.

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