Bild im Seitenkopf

Studie: Energiemarkt im Umbruch

Die Überlegungen, wie die hohen Energiepreise abgefedert werden könnten, gehen inzwischen weit über einzelstaatliche Maßnahmen wie Preisdeckel oder Bonuszahlungen hinaus. Auf europäischer Ebene wird eine ganze Palette von Ideen diskutiert – eine Abkehr vom oder eine Umgestaltung des Merit-Order-Systems inklusive.

 

Es war ein gewichtiges Signal, das EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Ende August in die Welt sandte: „Die in die Höhe schießenden Strompreise zeigen gerade aus verschiedenen Gründen die Grenzen unseres jetzigen Strommarktdesigns auf. Deshalb arbeiten wir jetzt an einer Notfallmaßnahme und an einer Strukturreform des Strommarktes.“

Damit war erstmals von höchster europäischer Stelle ein System in Frage gestellt, das Europa lange Zeit gut gedient hat: das Merit-Order-Prinzip samt Einheits­preis­verfahren, das einerseits zuverlässig die Nachfrage am Markt bedient, andererseits durch die Reihung der Kraftwerke nach ihren Angebotspreisen aber auch die günstigeren erneuerbaren Energien bevorzugt. Der Nachteil des Systems ist zwischenzeitlich auch bis in den letzten Haushalt bekannt: Am Ende bestimmt gemäß Einheitspreisverfahren das teuerste Kraftwerk, das gerade noch zum Zug kommt, um die Nachfrage zu befriedigen, den Preis. In vielen Ländern, darunter auch Österreich, ist das häufig ein Gaskraftwerk.

Ursula Von der Leyen

„Die in die Höhe schießenden Strompreise zeigen gerade die Grenzen unseres jetzigen Strommarktdesigns auf. Deshalb arbeiten wir an einer Struktur­reform des Strommarktes.“

Ursula von der Leyen EU-Kommissionspräsidentin

Bereits vor dem für viele überraschend klaren Diktum der EU-Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen haben daher einzelne Länder mit Überlegungen begonnen (bzw. diese bereits zum Teil umgesetzt), ob und wie es möglich ist, den Strompreis vom Gaspreis abzukoppeln – nicht als Abkehr vom Wettbewerbsprinzip, sondern als Korrektur eines Marktversagens, das viele Ökonomen beim Erdgas sehen.

enn üblicherweise müssten in einem funktionierenden Markt hohe Preise dafür sorgen, dass mit der Zeit größere Mengen des verknappten Guts in den Markt kommen. Bei Erdgas ist das aktuell aus zwei Gründen nicht der Fall: Zum einen, weil Gazprom bei der Versorgung vieler europäischer Länder mit Erdgas de facto eine Monopolstellung hat, zum anderen aber, weil das Unternehmen als verlängerter Arm der russischen Politik nicht nach ökonomischen, sondern politischen Prinzipien handelt und das Angebot künstlich verknappt.
 

Iberisches Modell„Die derzeit in Europa am intensivsten diskutierte Idee ist das sogenannte iberische Modell“, sagt Karina Knaus, Leiterin der Abteilung Volkswirtschaft, Konsument:innen und Preise bei der Österreichischen Energieagentur. Mitte Juni haben Spanien und Portugal das Merit-Order-System dahingehend umgestaltet, dass für Erdgas im Bieterverfahren ein Preis von aktuell ca. 40 Euro pro Megawattstunde festgesetzt wurde. Die Differenz zwischen diesem Preis und dem tatsächlichen Großhandelspreis wird, um einen Effizienzfaktor bereinigt, den Betreibern von Gaskraftwerken im Nachhinein abgegolten. Dieser Abschlag gilt auch für Kohle- und Ölkraftwerke.

Portugal und Spanien bilden eine Strominsel. Das iberische System würde in Resteuropa nur dann funktionieren, wenn es von allen EU-Staaten übernommen wird.

Die erwünschte Folge: Aufgrund dieser Ausgleichszahlungen können gasbetriebene und andere fossile Kraftwerke ihren Strom günstiger anbieten, was sich dämpfend auf die Strompreise auswirkt. Zugleich ist aber der als Ausgangspunkt gewählte Preis von 40 Euro MWh für Gas für die Stromproduktion  hoch genug, damit der mit dem Merit-Order-Prinzip verbundene Lenkungseffekt bestehen bleibt und Strom aus erneuerbaren Energien billiger ist und daher auch bevorzugt gekauft wird.

Seit der Einführung des Modells bis Mitte August sind auf der Iberischen Halbinsel die Strompreise am Spotmarkt um annähernd die Hälfte gefallen. „Netto fällt der Effekt allerdings geringer aus, da der Betrag, den die Betreiber der subventionierten Kraftwerke als Ausgleich bekommen, im Zuge eines Umlageverfahrens bezahlt wird. Er wird also am Ende auf alle Kunden aufgeteilt“, erklärt Knaus. Eine Reduktion von rund 50 Euro pro MWh Strom am Großhandel bzw. rund fünfzehn Prozent der Endkundenpreise erreicht das System aber dennoch.
 

InsellösungFunktionieren kann das allerdings nur, weil Spanien und Portugal de facto eine Strominsel bilden, die einen sehr geringen Austausch mit Resteuropa hat. Die Netzkapazitäten begrenzen die möglichen Ausfuhren von Strom nach Resteuropa auf weniger als fünf Prozent. Wäre es mehr, würde unweigerlich der Effekt eintreten, dass andere Länder den günstigen Strom von der Iberischen Halbinsel einführen würden, bis der dämpfende Preiseffekt verpufft ist. „Deshalb würde dieses System in Resteuropa nur dann funktionieren, wenn es wirklich von allen Ländern übernommen wird“, erklärt Knaus. „Würde sich Österreich hingegen für einen Alleingang entscheiden, wäre die Wirkung am Ende kaum spürbar.“

Doch selbst bei einer Ausdehnung des iberischen Modells auf den gesamten europäischen Strommarkt stellt sich die Frage, wie hoch der preisdämpfende Effekt dann noch wäre. „In Spanien und Portugal fällt er ja deshalb so hoch aus“, sagt Knaus, „weil dort der Anteil der Gas-Kraftwerke, die an der Stromerzeugung beteiligt sind, relativ klein ist. Wo es aber mehr fossile Kraftwerke gibt, denen Ausgleichszahlungen geleistet werden müssten, würde das viel stärker auf das Gesamtsystem durchschlagen und der preisdämpfende Effekt wäre viel geringer.“ Auch die Europäische Kommission hat eine Verankerung des iberischen Modells in der gesamten EU in ihrem jüngsten Dokument ausgeschlossen („Non-paper on Emergency Electricity Market Intervention“, veröffentlicht im Vorfeld des außerordentlichen Energieministerrats am 9. September 2022).

Karina Knaus

„Wenn es das ideale System gäbe, dann hätten wir es schon. Doch leider existiert kein ideales System.“

Karina Knaus Österreichische Energieagentur

Denkbar wäre auch, den Angebotsprozess in der Spot-Stundenauktion unberührt zu lassen, jedoch die Angebote von Gas, Steinkohle und Öl-Kraftwerken zu kennzeichnen und in einem zweiten Berechnungsschritt durch die Börse mit einem Zielpreis zu überschreiben, wobei die Mengen jedoch nicht mehr verändert werden. In diesem Modell würde der Marktpreis gesenkt, aber es kommt zu keinem unerwünschten Nachfrageüberschuss, da die Mengen aus der „normalen“ Auktion verwendet werden, in der der Markt geräumt wurde. Gas, Steinkohle und Öl-Kraftwerke würden eine Kompensation in Höhe der Differenz von ihren normierten Erzeugungskosten und dem angewandten Zielpreis erhalten.

Mancherorts werden inzwischen daher auch radikalere Maßnahmen für eine generelle Umgestaltung des Marktdesigns diskutiert. Aus Griechenland kommt der Vorschlag, die Preise für Strom aus erneuerbaren Energien einerseits und Strom aus thermischen Kraftwerken andererseits auf zwei unterschiedliche Arten zu ermitteln. Während es für die verschiedenen Formen von erneuerbaren Energien einen zentral festgesetzten Preis geben soll, soll der Preis für Strom aus thermischer Produktion weiter über Auktionen ermittelt werden. Die Verbraucher würden am Ende einen gewichteten Durchschnittspreis auf Basis des Erzeugungsmix zahlen.
 

Windfall-Profits abschöpfen?Die Idee hinter dem Gedanken ist leicht erklärt: Es soll verhindert werden,  dass Unternehmen, die Strom zum Großteil mithilfe der relativ günstigen erneuerbaren Energien produzieren, übermäßige Gewinne machen, weil sie für diese günstige Erzeugungsform dennoch den viel höheren Preis des letzten preissetzenden thermischen Kraftwerks bekommen.

„Damit können die sogenannten Windfall-Profits tatsächlich beschränkt werden“, urteilt Karina Knaus. Allerdings benötigen die meisten Energieunternehmen diese Zusatzprofite für den weiteren, dringend erforderlichen Ausbau der erneuerbaren Energien. Es stellt sich daher die Frage, wie sinnvoll es ist, diese Erträge zu beschneiden. Während diese Frage letztlich nur von der Politik beantwortet werden könne, existiere laut Karina Knaus aber auch ein starkes praktisches Argument gegen den griechischen Vorschlag: „Seine Implementierung würde auf jeden Fall eine längere Vorlaufzeit brauchen, da es das jetzige System durch ein völlig anderes ersetzen will. Der große Charme des iberischen Modells besteht hingegen darin, dass es auf dem existierenden Merit-Order-System aufbaut und daher vergleichsweise schnell einführbar ist.“
 

Pay-As-Bid-IdeeAls eher wenig vielversprechend hat sich in den bisherigen Diskussionen auch das ebenfalls angedachte Pay-As-Bid-Modell herausgestellt, also die Regel, wonach ein Anbieter, anders als bei Merit-Order, nur den Preis bekommt, den er auch geboten hat. Simulationen zeigen, dass in so einem System alle Anbieter, egal ob Wind, Strom, Wasser oder Gas, versuchen würden, möglichst nah an dem erwartet höchsten Preis des kommenden Tages zu bieten, auch wenn ihre eigenen Grenzkosten niedriger sind. Damit würde in der aktuellen Lage einerseits keine nachhaltige Senkung der Preise zu erwarten sein, andererseits ginge der positive Lenkungseffekt des Merit-Order-Systems, das die Erneuerbaren bevorzugt, verloren.

Ein Pay-As-Bid-Modell würde Simulationen zufolge das Bieter­­ver­halten verändern.
Der aktuelle Lenkungs­effekt, der die Erneuer­baren bevorzugt, ginge vermutlich verloren.

Schließlich wäre es auch möglich, den Euphemia-Algorithmus, der im Rahmen des aktuellen Merit-Order-Prinzips für die Berechnung der Preise verantwortlich ist, zu verändern und ihm Parameter einzupflegen, die die aktuelle Marktlage besser abbilden – ein durchaus mögliches und möglicherweise auch sinnvolles Unterfangen, das aber aufgrund seiner Komplexität wohl noch längere Vorlaufzeiten benötigen würde als das griechische Modell. Bleibt die Frage, wofür sich Europa am Ende entscheiden wird. „Wenn es das ideale System gäbe, dann hätten wir es schon“, kommentiert diesen Punkt Karina Knaus. „Denn der Leidensdruck aufgrund der hohen Preise ist ja groß genug. Doch leider existiert kein ideales System.“ Am Ende, so urteilt die Expertin, werde es daher eine Abwägung von Vor- und Nachteilen sein müssen, die dann eben nicht zur idealen, aber hoffentlich zumindest bestmöglichen Lösung führe.

Weitere spannende Berichte zum Thema Energie finden Sie in der „StromLinie“. Die aktuelle Ausgabe unseres Magazins zur Energiewende finden Sie hier.
 

Kostenloses Abo – jetzt bestellen!

Wenn sie die „StromLinie“ künftig per Post erhalten möchten, können Sie unser Magazin auch kostenlos abonnieren.