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Positionspapier Leitungsbau im 110 kV-Netz

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Kabel oder Freileitung?

Einleitung

Die Verkabelung von Stromversorgungsleitungen im Nieder- und Mittelspannungsnetz hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Ein Großteil aller Neubauten, die am Mittel- oder Niederspannungsnetz angeschlossen werden, wird heute über Kabellösungen realisiert. Zunehmend fordern nun von Leitungsbauvorhaben betroffenen Gemeinden und Anrainer sowie manchmal die zuständigen Behörden auch bei 110 kV-Leitungsprojekten eine Verkabelung. Da dieses Thema mehr emotionell und ohne ausreichende Kenntnis der Fakten diskutiert wird, wird im Folgenden ein Vergleich der beiden Technologien aus Sicht der Netzbetreiber vorgenommen, um eine sachliche Grundlage für das gemeinsame Verständnis zu schaffen.


Themenblock „Begrenzte Anwendbarkeit von Kabeln im 110 kV-Netz mit Erdschlusskompensation“

Das 110 kV-Netz wird in ganz Österreich und Teilen Europas mit Erdschlusskompensation (d.h. gelöscht) betrieben. Das bedeutet, dass bei einem Erdschluss (Berührung eines Stromleiters mit dem Erdboden, Bäumen oder geerdeten Teilen) der am Fehlerort zur Erde fließende Strom durch eine Erdschlusslöschspule minimiert wird und der damit verbundene Störlichtbogen in den meisten Fällen sogar selbständig erlischt. Die Versorgung der Netzkunden wird dabei nicht unterbrochen und es kommt zu keinen Spannungseinbrüchen. Im Gegensatz wird bei einem Netz ohne Erdschlusskompensation (starre oder niederohmige Erdung) jeder Erdschluss zu einem Erdkurzschluss, und die Versorgung der Netzkunden wird unterbrochen.

Ein 110 kV-Kabel verursacht auf Grund seiner Konstruktion einen ca. 30 Mal so hohen Erdschlussstrom wie eine 110 kV-Freileitung. Wenn die Kabellänge im Netz eine bestimmte Länge überschreitet, kann der Fehlerstrom nicht mehr ausreichend kompensiert werden  und die gelöschte Betriebsweise ist aus Sicherheitsgründen nicht mehr zulässig. 

Für den Einsatz von Kabeln anstatt Freileitungen gibt es vorrangig folgende technische Möglichkeiten: 

  • Eine Umstellung der Betriebsweise von gelöschtem Netz auf starre Erdung würde bei sinkender Versorgungsqualität1 für ein typisches österreichisches Bundesland Investitionen von mehreren hundert Millionen Euro erfordern. Eine solche Umstellung ist nicht in einem Teilnetz allein möglich, sondern muss mit benachbarten Netzen koordiniert werden.
  • Bei der Betriebsweise „starre Erdung“ sind größere Abstände zu anderen Leitungsträgern (Gas, Öl, Telekom, etc.) sowie aufwändige Schutzmaßnahmen für viele bestehende Bauwerke erforderlich. Diese Maßnahmen sind in der Kostenschätzung nicht enthalten.

  • Zur Beibehaltung der Versorgungssicherheit ist vor der Netzaufteilung die Errichtung zusätzlicher Netzabstützungen aus dem übergeordneten 220 kV/380 kV-Netz erforderlich. Dies ist mit sehr hohen Kosten für die Errichtung weiterer 220 kV/380 kV- und 110 kV-Leitungen und Umspannwerke verbunden.
  • Bei den Varianten 1 und 2 wäre eine Verkabelung technisch anschließend möglich. Zu den hohen Umstellungskosten kommen noch die Mehrkosten für den Neubau von Leitungen in Kabeltechnologie

Nur dort, wo es unbedingt erforderlich ist (z.B. in dicht verbauten Bereichen mit städtischem Charakter). Teilverkabelungen sollten auf der 110 kV-Ebene einerseits aus technisch-wirtschaftlichen Gründen als auch aufgrund der Erhöhung des Ausfallrisikos an den Übergangstellen Freileitung – Kabel vermieden werden.

 

Themenblock „Investitionskosten“

Für geringe Übertragungsleistungen in Mittel- und Niederspannungsnetzen ist das Kabel inzwischen annähernd gleichpreisig zur Freileitung. Bei für 110 kV-Netze erforderlichen hohen Übertragungsleistungen ist die Kabeltechnologie aber nach wie vor wesentlich teurer. Dies gilt vor allem für die Verlegekosten in Abhängigkeit der Trassenführung (Faktor ca. 2 bis 3, in Einzelfällen auch höher). Beim Ersatz eines Freileitungssystems sind zum Erreichen der gleichen Zuverlässigkeit in Einzelfällen mehrere Kabelsysteme erforderlich. 

Hinzuzurechnen sind auch die erforderlichen Maßnahmen der Betriebsumstellung nach dem bei einer Verkabelung raschen Erreichen der Löschgrenze, sowie die Kosten für die Blindleistungskompensation. 

Die wesentlich höheren Kosten von Kabellösungen führen zu einer nicht unbeträchtlichen Erhöhung der Stromnetztarife.  
 

Themenblock „Betriebskosten“

Zu den Betriebskosten von Freileitungen und Kabeln werden alle Kosten gezählt, die während der Bestandsdauer der Leitung entstehen. Dazu zählen Aufwendungen für Netzverluste, Instandhaltungsmaßnahmen sowie Reparaturen.

Netzverluste sind wesentlich von der Auslastung der Leitung abhängig. Bei gleicher Übertragungsleistung haben Kabel einen größeren Leiterquerschnitt als Freileitungen. Bei hoher Auslastung haben Kabel daher gegenüber Freileitungen geringere Verluste. Eine dauerhaft hohe Leitungsauslastung in Übertragungs- und Verteilnetzen widerspricht jedoch einer sicheren Netzführung und ist rechtlich nicht zulässig (Stichwort: n-1 Sicherheit). Zusätzlich erhöhen erforderliche Betriebsmittel zur Netzintegration von Kabeln (z.B. Trenntransformatoren) die Netzverluste. Der Verlustvorteil von Kabeln gegenüber Freileitungen fällt daher in der Praxis vernachlässigbar aus.

Instandhaltungsmaßnahmen sind sowohl bei Freileitungen als auch bei Kabeln notwendig. Diese setzen sich aus Inspektionen, Wartungsarbeiten, Trassenfreihaltung sowie zustandsbedingten Instandsetzungen zusammen. Bei Kabeln werden meist zusätzlich Systeme zur Temperaturüberwachung und Zustandsdiagnose eingesetzt. In der Betriebskostenbetrachtung spielen Instandhaltungskosten eine untergeordnete Rolle.

Kosten für Reparaturen sind ebenfalls von untergeordneter Rolle. Sowohl bei Freileitungen als auch bei Kabeln können Reparaturen an allen technischen Bauteilen erforderlich sein. Die Aufwendungen dafür sind in hohem Maße von der Art und Häufigkeit der Störung abhängig (siehe Themenblock Instandhaltung und Störungsbehebung). 

Zusammengefasst sind Betriebskosten aufgrund ihrer geringen Höhe im direkten Vergleich mit den Investitionen von nachrangiger Bedeutung für die Auswahl der technologischen Ausführungsform. Die höheren Investitionskosten von Kabelleitungen können durch die meist geringeren Betriebskosten, über die Lebensdauer betrachtet, nicht kompensiert werden.
 

Themenblock „Instandhaltung und Störungsbehebung“

Freileitungen können einfach inspiziert werden, sich abzeichnende Störungen (Alterung, Einzeldrahtbruch, Isolatorbruch) können oft noch vor Störungseintritt behoben werden  (in Schwachlastzeiten oder an Wochenenden).  

Kabelstörungen treten meist ohne Vorwarnungen auf. Die Fehlerstelle muss technisch aufwändig gesucht werden. Eine Störungsbehebung dauert in der Regel wesentlich länger (mehrere Tage) als bei einer Freileitung (mehrere Stunden). Dies kann zur Erhöhung der Nichtverfügbarkeit bis zum Faktor 30 führen (Quelle: VDE-Störungsstatistiken). Im Freileitungsbau mögliche kurzfristig erstellbare Provisorien können in der Kabeltechnik kaum angewendet werden.

Schäden durch externe Einflüsse (Naturgefahren und Beschädigung durch Dritte) betreffen sowohl Freileitung als auch Kabelleitungen. 

Bei Kabelleitungen sind wegen der unterschiedlichen physikalischen Eigenschaften im Vergleich zu Freileitungen weitere besondere Begleitmaßnahmen für den sicheren Betrieb zu berücksichtigen, die die Investitionskosten zusätzlich erhöhen. 

Strommast
© cupix

Themenblock „Grundstücksnutzung“  

Die Nutzung der betroffenen Grundstücke ist bei Freileitung und Kabel mit Einschränkungen verbunden. Bei einer Freileitung erfolgt die direkte Grundinanspruchnahme nur punktuell (bei den Maststandorten), die Überspannung reduziert die mögliche Grundstücksnutzung, eine Unterbauung ist aber grundsätzlich möglich. Beim Kabel ist eine Überbauung der Trasse in der Regel nicht zulässig. Der erforderliche Dienstbarkeitsstreifen ist aber deutlich schmäler als jener für Freileitungen.
 

Themenblock „Auswirkungen auf die Umwelt“

Die Umwelt-Diskussion in Bezug auf Freileitung und Kabel umfasst hauptsächlich die optische Beeinträchtigung durch Maste und Seile. Freileitungen sind sichtbar und Kabel sind unsichtbar. Freileitungen werden daher manchmal als optisch störend betrachtet und Kabel als gut. Diese oberflächliche Betrachtung greift aber zu kurz. Umwelt ist weit mehr.

Schon bei der Errichtung bewirkt eine 110 kV-Kabelverlegung eine massive Beeinflussung und Veränderung des Bodens. Bei offenen Bauverfahren muss eine wesentlich größere Menge Erde aufgegraben und bewegt werden als dies bei der Errichtung der Maste für Freileitungen notwendig ist. Die Vegetation entlang der gesamten Kabelstrecke ist betroffen. Bei Führung im Wald, muss die Kabeltrasse dauerhaft gerodet bleiben, da tiefwurzelnde Pflanzen die Kabel beschädigen können. Das Kabel ist zwar später nicht sichtbar, es wird jedoch durch die Erdverlegung bereits in der Bauphase viel Natur verbraucht.

Im städtischen Bereich spielen diese Kriterien keine oder nur eine untergeordnete Rolle; über Land können derartige Eingriffe oft weitreichende negative Konsequenzen haben.

Beim Freileitungsbau ist die Beeinflussung des Bodens nur im unmittelbaren Bereich um die Mastfundamente gegeben. Sofern sich einzelne Bäume im Verlauf der Freileitungstrasse befinden, werden diese überspannt, zurückgeschnitten und nur dann entfernt, wenn es anders nicht geht. Je nach Höhe der Leiterseile über dem Boden ist ein Bewuchs somit  auch direkt unter der Leitung möglich.
 

Themenblock „Lebensdauer und Erneuerbarkeit“  

Aus Sicht der Lebensdauer und Erneuerbarkeit ist der Freileitung der Vorrang zu geben.

Lebensdauer der Freileitung: 80–100 Jahre sind erfahrungsgemäß bei zeitgerechter Instandhaltung an Seilen, Armaturen und Masten problemlos erreichbar. 

Lebensdauer des Kabels: die erwartete technische Lebensdauer von Kunststoffkabeln beträgt ca. 40–50 Jahre. Die geringere Lebensdauer im Vergleich zu Freileitungen ist also bei den Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen (Lifecycle-costs) zusätzlich zu berücksichtigen, da ihre Demontage und Neuverlegung nach ca. 40–50 Jahren – neben den erneuten Maßnahmen im Bodengefüge – hohe Neuinvestitionen bedeuten. Während Instandhaltungsmaßnahmen bei einer Freileitung relativ einfach und kostengünstig erfolgen können, muss  beim Kabel ein Großteil der Errichtungskosten nochmals investiert werden. 

Resumee
Aus all den oben angeführten Argumenten kommt aus Sicht von Oesterreichs Energie eine Verkabelung im ländlichen 110 kV-Netz nur in Ausnahmefällen in Betracht.

Im Überlandbereich werden daher weiterhin 110 kV-Freileitungen errichtet. 110 kV-Erdkabel kommen für kurze Strecken in dicht besiedelten Gebieten zur Anwendung.

Eine generelle Umstellung von 110 kV-Freileitungen auf Erdkabel kann nur österreichweit erfolgen, würde Investitionen in Höhe von mehreren Milliarden Euro erfordern und kann daher aus volkswirtschaftlichen Gründen nicht empfohlen werden.

Ansprechpartner

Karl Scheida
Netze
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k.scheida@oesterreichsenergie.at