Der Strom-Stresstest
Anfang November hat Austrian Power Grid (APG), die das überregionale Stromnetz in Österreich betreibt, die Ergebnisse ihres Stresstests veröffentlicht.
Die Kernaussage des Strom-Stresstests ist trotz der angespannten Lage positiv: Unter der Annahme des wahrscheinlichsten aller modellierten Szenarien ist in Österreich im aktuellen Winter mit keiner Strommangellage zu rechnen. Die APG sieht die energiewirtschaftliche Gesamtsituation für den kommenden Winter dementsprechend als herausfordernd, aber beherrschbar. Beim Zusammentreffen mehrerer negativer Faktoren ist allerdings, wie der Strom-Stresstest zeigt, eine Lastunterdeckung möglich.
Vier ModellierungsfaktorenVier Kerngrößen sind in die Modellierung der Szenarien des Strom-Stresstests eingeflossen: Erstens die Verknappung des Gas- und Kohleangebots am europäischen Markt, zweitens eine mögliche Laststeigerung, die sich aus der Substitution von Gas durch Strom ergibt, drittens innereuropäische Exportstopps bei Strom sowie als vierter Punkt die zu erwartende reduzierte Kraftwerksleistung in mehreren europäischen Ländern.
Der erste Punkt, die Verknappung des Gas- und Kohleangebots, ist Folge der aktuellen geopolitischen Lage. Ein wichtiger variabler Faktor im Stresstest sind daher Annahmen darüber, ob es gelingt, diese Verknappung durch andere Quellen bzw. durch Stromsparen auszugleichen.
Der zweite Punkt, Laststeigerungen, wird vor allem dort erwartet, wo der Verzicht auf Gas zu einem Umstieg auf Strom führt, etwa zur Erzeugung von Hauswärme durch mobile elektrische Heizgeräte.
Der dritte für den Strom-Stresstest wichtige Faktor ist der absehbare Exportstopp von polnischem Strom. Da Polen die Gaslieferverträge mit Russland gekündigt hat und die Kohleressourcen verstärkt selbst benötigt, wird das Land im Winter als Strom-Exporteur vermutlich weitgehend ausfallen.
Die vierte Einflussgröße ist schließlich die reduzierte Kraftwerksleistung, mit der in Frankreich, Finnland und Deutschland gerechnet werden muss. In Finnland ist für die Leistungsreduzierung die verspätete Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Olkiluoto verantwortlich, in Frankreich die nicht abgeschlossenen Revisionsarbeiten an mehreren Kraftwerken. In Deutschland könnte es aufgrund der Niedrigwassersituation und der damit verbundenen Schwierigkeiten beim Kohletransport auf dem Rhein, der Elbe und der Donau zu einer Reduktion der Stromproduktion aus Steinkohle kommen.
Fixe und variable AnnahmenIn der probabilistischen Modellierung, die die endgültigen Ergebnisse des Stresstests lieferte, wurden die Annahmen zur Entwicklung der vier Einflussgrößen Gasverknappung, Laststeigerung, Exporteinschränkung und reduzierte Kraftwerksleistung zum Teil als Variablen, zum Teil als Konstanten behandelt. Unterschiedliche Sets an Variablen und Konstanten ergaben in der Folge drei Szenarien, die als „Kombinationsszenario“ (sehr wahrscheinlich), als „Kombinationsszenario kritisch“ (gering wahrscheinlich) und als „Kombinationsszenario sehr kritisch“ (sehr gering wahrscheinlich) bezeichnet werden.
Alle Szenarien gehen davon aus, dass Polen in diesem Winter als Stromlieferant ausfallen wird. Die maximal verfügbare Leistung der Kernkraftwerke in Frankreich wird mit zwei Drittel der sonst verfügbaren Leistung von 61 GW angenommen.
Alle Szenarien gehen davon aus, dass Polen in diesem Winter als Stromlieferant ausfallen wird und seine Kohleexporte limitieren muss. Ebenfalls als eine Konstante wurde die maximal verfügbare Leistung der Kernkraftwerke in Frankreich angenommen – und zwar mit dem Wert von 40 GW. Das sind rund zwei Drittel der sonst verfügbaren Leistung von 61 GW. Für die verspätete Inbetriebnahme des finnischen Kernkraftwerks Olkiluoto wurde in allen Szenarien ein Minus von 1,6 GW angesetzt.
Als Variablen behandelt wurden hingegen: die Kraftwerksleistung in Deutschland, eine eventuelle Laststeigerung aufgrund der Substitution von Erdgas durch Strom sowie die Verknappung des Erdgasangebots.
Im Einzelnen wurden die Variablen in den drei unterschiedlichen Szenarien folgendermaßen behandelt: Das „Kombinationsszenario“ geht davon aus, dass es in Deutschland keine Minderung der Kraftwerksleistung geben wird und es aufgrund der gut gefüllten Speicher sowie alternativen Beschaffungswege auch zu keiner Gasverknappung kommt.
Im „Kombinationsszenario kritisch“ nimmt der Stresstest eine um 2 GW reduzierte Kraftwerksleistung in Deutschland an sowie eine Gasverknappung, bei der nur noch 80 Prozent des Bedarfs befriedigt werden können.
Im „Kombinationsszenario sehr kritisch“ sind es dann 3 GW Leistunsgseinbußen in Deutschland und eine Gasversorgung, die nur noch 60 Prozent des Bedarfs deckt.
Sowohl im „Kombinationsszenario kritisch“ als auch im „Kombinationsszenario sehr kritisch“ wird überdies eine Laststeigerung von fünf Prozent angenommen.
Wahrscheinlichstes SzenarioDie höchste Eintrittswahrscheinlichkeit ergibt sich nach den Berechnungen des Strom-Stresstests für das „Kombinationsszenario“, also jenes Modell, das reduzierte Kraftwerksleistung in Frankreich und Finnland, fehlende Stromexporte und reduzierte Kohleexporte aus Polen annimmt, aber keine Einschränkungen der Kraftwerksleistung in Deutschland, eine vollständige Bedarfsdeckung bei Gas sowie keine Laststeigerungen.
In diesem als „sehr wahrscheinlich“ bezeichneten Szenario sind aufgrund der in Österreich bereits getroffenen Maßnahmen, vor allem der Erdgasbevorratung und der Netzreserve, keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Stromversorgung zu erwarten.
Am wahrscheinlichsten ist das „Kombinationsszenario“, das reduzierte Kraftwerksleistung in Frankreich und Finnland, fehlende Stromexporte und reduzierte Kohleexporte aus Polen annimmt.
Das als „gering wahrscheinlich“ bezeichnete „Kombinationsszenario kritisch“, das den Annahmen des „Kombinationsszenarios“ wie oben ausgeführt weitere Stressfaktoren anfügt, würde hingegen bedeuten, dass in Österreich im kommenden Winter mit einer Lastunterdeckung von bis zu 479 Stunden bzw. 1,2 TWh zu rechnen wäre.
In einem Zeitraum von in Summe 479 Stunden würde dann im Laufe des kommenden Winters nicht ausreichend Strom zur Verfügung stehen, damit alle Verbraucher ihn uneingeschränkt aus dem Netz entnehmen können. Sollte das „Kombinationsszenario kritisch“ eintreten, würde es sich in der Praxis tendenziell dennoch um kurze Perioden der Unterdeckung handeln, die mit entsprechenden Gegenmaßnahmen, wie zeitnahen Änderungen der Bezugsleistung an einzelnen Netzknoten oder dem Verschieben von Last, gut beherrschbar wären.
Im „Kombinationsszenario sehr kritisch“, dessen Eintrittswahrscheinlichkeit als „sehr gering“ eingestuft wird und in dem mit weiter verschärften Annahmen, etwa einer nur 60-prozentigen Deckung des Gasbedarfs, gerechnet wurde, würde die Lastunterdeckung weiter steigen. Es wäre dann ein Wert von bis zu 815 Stunden bzw. 2,2 TWh zu erwarten.
Einfluss von EinzelfaktorenNeben den Kombinationsszenarien liefert der Strom-Stresstest auch Aussagen darüber, welche Faktoren isoliert betrachtet den größten Einfluss auf die Versorgungssicherheit haben. Dabei zeigt sich, dass selbst wenn man von einer gleichzeitig reduzierten Kraftwerksleistung in Frankreich, Finnland und Deutschland ausgeht, dieser Faktor allein zu keiner Lastunterdeckung in Österreich führt. Ähnlich verhält es sich bei der Laststeigerung. Selbst bei einem Anstieg um zehn Prozent würde in Österreich keine Lastunterdeckung entstehen, vorausgesetzt dieser Anstieg tritt nicht in Verbindung mit anderen negativen Faktoren auf.
Die Versorgung mit Erdgas ist hingegen ein Faktor, der ab einem gewissen Punkt alleine, also auch ohne Kombination mit anderen negativen Variablen, zu einer Lastunterdeckung führt. In Österreich wäre das ab einer Reduktion der verfügbaren europäischen Gasmengen auf 60 Prozent der Fall. In vielen anderen europäischen Staaten reichen für den Effekt schon 80 Prozent.
Aktuelle EmpfehlungenAufgrund der Ergebnisse des Strom-Stresstests rechnet die APG mit keiner unmittelbaren Gefahr einer Lastunterdeckung in Österreich. Dennoch formuliert sie im Zusammenhang mit dem Bericht einen Katalog an Maßnahmen, die eingehalten bzw. etabliert werden sollten, um die Stromversorgung auch bei unerwarteten Entwicklungen gewährleisten zu können.
Neben der Verfügbarkeit von Reservekraftwerken betont die APG die Notwendigkeit, weiter an alternativen Gasbeschaffungsmodellen zu arbeiten und die Gasspeicher möglichst gut gefüllt zu halten – auch im Hinblick auf den Winter 2023/24. Ebenso betont wird die Notwendigkeit eines sorgsamen Umgangs mit allen Energieträgern und die Einhaltung der nationalen und europäischen Einsparungsziele. Damit ist einerseits die von der Europäischen Kommission formulierte Vorgabe gemeint, fünf Prozent der Lastspitzen einzusparen, andererseits die „Mission 11“ der österreichischen Bundesregierung.
Empfohlen werden auch eine Reihe von Maßnahmen, die die Resilienz in der österreichischen Stromversorgung steigern wie etwa die Optimierung bestehender Netzkapazitäten sowie bessere Prognosen. Die APG weist überdies auch auf die Bedeutung eines integrierten österreichischen Netzinfrastrukturplans und eines beschleunigten Ausbaus der erneuerbaren Energien hin. Als unmittelbare Maßnahme soll auch ein Power Monitor installiert werden, der ab Dezember jede Woche eine aktuelle Analyse der Stromversorgungslage liefert.