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Virtuelle Trägheit

Stromnetze brauchen Trägheit, damit sich Störungen nicht zu schnell auf das gesamte System ausweiten. Doch wie lässt sich das in einem Stromnetz realisieren, das zunehmend von volatilen, umrichtergekoppelten Anlagen dominiert wird? Martin Lenz, Experte für netzbetriebliche Standards beim österreichischen Übertragungsnetzbetreiber APG, weiß die Antwort.
 

Ein Stromnetz benötigt Trägheit, um bei plötzlichen Leistungsungleichgewichten, etwa einem größeren Kraftwerksausfall, stabil zu bleiben. In der klassischen Stromwelt steckt diese Trägheit in den rotierenden Schwungmassen von Synchrongeneratoren und deren Turbinen, wie sie in Laufwasserkraftwerken oder auch thermischen Kraftwerken genutzt werden. 

Die dabei gespeicherte kinetische Energiemenge ist beträchtlich: Im Netz-Synchrongebiet Kontinentaleuropa sind es aktuell typischerweise rund 1.500 bis 2.000 Gigawattsekunden – das entspricht im Mittel grob dem Jahresverbrauch von 250 Zwei-Personen-Haushalten. Damit lassen sich auch größere Leistungsungleichgewichte gut managen, da den nachfolgenden Stabilisierungsmechanismen, wie zum Beispiel der Primärregelreserve, ausreichend Reaktionszeit für die entsprechende Stabilisierung der Netzfrequenz ermöglicht wird.  

„Je höher der Anteil von umrichtergekoppelten Anlagen am Netz ist und je mehr konventionelle Kraftwerke vom Netz gehen, desto mehr bricht diese klassische kinetische Trägheit aber weg.“ Martin Lenz Teamlead System Standards bei Austrian Power Grid

Je höher der Anteil von umrichtergekoppelten Anlagen am Netz ist und je mehr konventionelle Kraftwerke vom Netz gehen, desto mehr bricht diese klassische kinetische Trägheit aber weg. Sie zu ersetzen, ist nicht einfach, aber durch die Bereitstellung von sogenannter virtueller Trägheit grundsätzlich möglich. 

Das kann in Zukunft über sogenannte Grid-Forming, also netzbildende Umrichter erfolgen. Umrichtergekoppelte Erzeugungsanlagen mit Grid-Forming-Fähigkeit bieten dabei durch ihre sehr hohe Reaktionsgeschwindigkeit, die im Millisekundenbereich liegt, hervorragende Möglichkeiten, über Regelungstechnik und Software die Abgabe bzw. Reduktion von Wirkleistung extrem schnell zu steuern. 

Bei entsprechender Auslegung ist die Bereitstellung von virtueller Trägheit solcher Systeme dann in ihrer Wirkung auf die Frequenzstabilität der klassischen, kinetischen Trägheit von Synchrongeneratoren de-facto ebenbürtig. Also ja: Virtuelle Trägheit kann und muss es zukünftig geben, damit auch weiterhin eine entsprechende Resilienz im Netz bei unvorhersehbaren Ereignissen sichergestellt ist. 

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