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Versorgungssicherheit auch in einer erneuerbaren Zukunft

Karl Heinz Gruber, Spartensprecher Erzeugung, blickt in seinem Kommentar auf das Jahr 2022 zurück und beschreibt die Herausforderungen und Chancen der Branche.

Das Jahr 2022 war in allen Bereichen zusätzlich zu den noch immer vorliegenden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie durch den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine geprägt. Das große menschliche Leid, das dabei mit aller Härte die Bevölkerung der Ukraine trifft, führt alle Vorstellungen für ein friedliches Miteinander in Europa ad absurdum. Eines der grausamen Kriegsmittel Russlands stellt dabei die völlige Zerstörung der Energie-Infrastruktur fast im gesamten Land dar.

Österreich und Europa bekommen die Folgen des Krieges (zum Glück) nur wirtschaftlich zu spüren. Neben Lieferengpässen bei vielen Materialien und Marktverwerfungen bestimmten 2022 massiv steigende Energiepreise und die Unsicherheit der Gaslieferungen die energiepolitischen Diskussionen. Es wird von einer Kriegswirtschaft und einer Zeitenwende gesprochen, in der – anders als in den Vorjahren – die Versorgungssicherheit plötzlich in den Mittelpunkt rückt. Einseitige Abhängigkeiten von Lieferanten sollen zukünftig verhindert werden, ohne das langfristig wirksame Klimaschutzziel aus den Augen zu verlieren.

 

„Die Sicherstellung des 100%-Ziels erfordert enorme Leistungs- und Erzeugungszuwächse bei den Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien.“ Karl Heinz Gruber Spartensprecher Erzeugung von Oesterreichs Energie und Mitglied der Geschäftsführung der VERBUND Hydro Power GmbH

Alle sind sich einig, dass das schon in den Vorjahren geplante 100 %-Erneuerbaren-Ziel in der Stromversorgung die richtige Antwort darauf ist. Klar verbunden ist damit allerdings, dass die klimapolitisch notwendige zunehmende Elektrifizierung der Mobilität, der Wärme und vieler Industrieanwendungen die Stromnachfrage deutlich steigen lässt.

Die Sicherstellung des 100 %-Ziels erfordert am Ende enorme Leistungs- und Erzeugungszuwächse bei den Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien. Das gilt nicht nur für den Zielhorizont 2030 des Erneuerbaren-Ausbau-Gesetzes, sondern auch und insbesondere für den Zielhorizont 2040 zur Erreichung der Klimaneutralität. Abschätzungen von Oesterreichs Energie zeigen, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien bis 2030 in Höhe von 27 TWh und bis 2040 um weitere 50 TWh notwendig ist.  Bezogen auf die Leistung bedeutet das für das Erreichen der Klimaneutralität, dass die derzeitigen erneuerbaren Erzeugungskapazitäten von rd. 20 GW mehr als verdreifacht werden müssen. Der damit für die kommenden 18 Jahre verbundene jährliche Leistungsanstieg von über 2 GW an erneuerbaren Energieerzeugungsanlagen stellt jedenfalls eine Herkulesaufgabe dar. Um eine bessere Vorstellung davon zu bekommen: von heute an bis 2040 monatlich ein Kraftwerk wie Freudenau oder täglich eine Windkraftanlage mit 5,5 MW Leistung oder 7 Fußball-
felder mit PV-Modulen.  

Die Realisierung des Ausbaus ist unter den Gesichtspunkten der Versorgungssicherheit und des Klimaschutzes alternativlos. Zur Umsetzung dieser Mammutaufgabe braucht die E-Wirtschaft jedoch dringend entscheidende gesetzlich regulatorische Anpassungen, die von der Politik deutlich entschlossener als in der Vergangenheit in Angriff genommen werden müssen – im Bereich der Förderung, mit rascheren Genehmigungsverfahren und der Schaffung einer breiten Akzeptanz in der Bevölkerung.

Im Laufe des Jahres 2022 wurden endlich die Investitionszuschüsseverordnung und die Marktprämienverordnung verabschiedet. Oesterreichs Energie hat auf dem Weg bis zum Erlass der Verordnungen wiederholt darauf gedrungen, dass bei der Bemessung der Fördermittel auf realitätsnahe, aktuelle Kosten der Erzeugung einschließlich der Finanzierungsbedingungen abgestellt wird. Damit konnten zwar substanzielle Anpassungen der beabsichtigten Förderkonditionen erreicht werden, in den finalen Verordnungen finden jedoch die massiven Preisanstiege der letzten Monate bei Komponenten, Dienstleistungen und nicht zuletzt Finanzierungen keinerlei Entsprechung. Das Ergebnis wird sein, dass es zu einer Zurückhaltung der Investoren und einer Unterzeichnung der Ausschreibungen bzw. einer zu geringen Inanspruchnahme der administrativ vergebenen Förderung kommen wird. Daher muss Anfang kommenden Jahres rasch und konsequent mit einer Anpassung der Förderkonditionen gegengesteuert werden.

Hochgebirgsstausee Kaprun
© AdobeStock/kamilpetran

Allerdings ist damit der Weg zur Erreichung der Erneuerbaren-Ausbauziele noch lange nicht frei. Aktuell zählen fehlende Flächen und langwierige Verfahren zu den wichtigsten Hürden beim Erneuerbaren-Ausbau. Die Genehmigungsprozesse müssen unbedingt beschleunigt werden, um die Verfahrenseffizienz zu steigern und die Verfahrensdauern zu reduzieren. Ein erster nationaler Ansatzpunkt dazu ist die derzeitige Novellierung des UVP-Gesetzes. Verfahrensbeschleunigende Wirkungen müssen aber auch in den einzelnen Materiengesetzen umgesetzt werden.

Auch auf der europäischen Ebene ist erkannt worden, dass langwierige Genehmigungsprozesse oft das größte Hindernis beim Ausbau erneuerbarer Energien darstellen. Daher wird eine EU-Notfall-Verordnung zur Beschleunigung der Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien erlassen werden, die Inhalte der in Überarbeitung befindlichen Erneuerbare-Energien-Richtlinie aufgreift und als Verordnung direkt in den Mitgliedsstaaten umzusetzen ist. Wesentliche Bestandteile sind ambitionierte Vorgaben zur drastischen Verkürzung von Genehmigungsverfahren sowie die Annahme, dass Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien, deren Netzanschluss (natürlich samt der Netze) sowie Speicheranlagen im überwiegenden oder noch besser im überragenden öffentlichen Interesse liegen und damit im Genehmigungsprozess Priorität bei der Abwägung mit anderen Belangen haben.

Die Abwägung muss auch mit Blick auf kommende Regelungen zur Biodiversität und ihrer Wirkung auf den Erneuerbaren-Ausbau und die Erreichung der Klimaschutzziele vorgenommen werden. Das gilt insbesondere für die Diskussion über Flächenbeschränkungen, bei denen Abwägungsentscheidungen weiterhin möglich sein müssen. Großflächige Ausschlusszonen für erneuerbare Energien, ungeachtet der konkreten Veränderungen durch Erneuerbaren-Projekte vor Ort, sind die falsche Antwort auf die Biodiversitätskrise. Stattdessen sind Ziele der Artenvielfalt und Klimaschutzziele im Einzelfall abzuwägen.

Hinsichtlich des erheblichen Flächenbedarfs für den Ausbau erneuerbarer Energien erkannte die EU-Kommission, dass die Mitgliedsstaaten Vorranggebiete etwa für Windkraft- und PV-Freiflächenanlagen ausweisen sollen, in denen vereinfachte und schnelle Genehmigungsverfahren gelten. Erneuerbaren-Ausbau-Projekte in solchen Vorranggebieten sollen künftig von der UVP-Pflicht ausgenommen werden.

Gleichzeitig ist zu hoffen, dass sich die in aktuellen Umfragen deutlich zunehmende Bereitschaft der Bevölkerung, Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien auch in ihrer Nachbarschaft zu akzeptieren, dann auch in einer zunehmenden Bereitschaft zur Akzeptanz von konkreten Projekten vor Ort niederschlägt. Ohne zügigen und an den Ausbauzielen orientierten Ausweis von Vorranggebieten in den Bundesländern werden die Erzeugungszuwächse kaum zu erreichen sein. Es muss gelingen, dass die Bevölkerung stolz darauf ist, Anlagen in ihrem Umfeld zu haben, die als Zeichen einer nachhaltigen Energiezukunft Signalwirkung haben.

Photovoltaik-Anlage
© AdobeStock/Fly and Dive

Mit dem Ausbau der Erneuerbaren muss auch gleichzeitig der Speicher- und Flexibilitätsbedarf mitgedacht werden. Mit der Zunahme der volatilen Erzeugungstechnologien Wind und PV brauchen wir in den nächsten Jahren auch deutlich mehr Speicher- und Flexibilitätskapazitäten. Und zwar für unterschiedliche Zwecke: sowohl kurz- und mittelfristige als auch saisonale Speicher zur Nutzung der über die Nachfrage hinausgehenden Erzeugung im Sommer für den Winter. Aber auch Flexibilitätsleistungen im kleinen und mittleren kW-Bereich sowie im großen MW-Bereich, um jeweilige Netzschwankungen in allen Größenordnungen in Millisekunden regeln zu können.

Batterien befinden sich im kleinen und mittleren Bereich im Aufbau. Für großtechnische Lösungsansätze leisten Pumpspeicherkraftwerke, wie sie speziell im alpinen Bereich Stand der Technik sind, bereits heute und in den kommenden Jahrzehnten wesentliche Beiträge. Aber natürlich werden auch flexible thermische Kraftwerke mit steuerbaren Leistungen – perspektivisch mit grünem Wasserstoff betrieben – weiterhin langfristig benötigt. Und es muss die Entwicklung von Elektrolyseanlagen für die Saisonspeicherung vorangetrieben werden, um die Wasserstoffnutzung etwa in Industrieanwendungen zu ermöglichen.

In diesem Sinne muss das künftige Strommarktgesetz Netzentgeltentlastungen von Zwischenspeichern mit ihren system- und netzdienlichen Eigenschaften nicht nur zulassen, sondern eigentlich sogar fördern.
Noch etwas zum Thema neues Strommarktgesetz: Nach Aussagen der meisten Energiemarktexperten wird für den Erhalt steuerbarer Leistungen nicht nur die Fortführung der Netzreserve erforderlich sein. In den kommenden Jahren werden auch Kapazitätsmechanismen notwendig werden, um die zur Systemstabilität benötigten Ersatz- und Neuinvestitionen in eine Vielfalt von Technologien zur Bereitstellung gesicherter und flexibler Leistung trotz eines zunehmend dynamischen Umfelds sicherzustellen. Hier sollte schon jetzt mit vorbereitenden Evaluierungen begonnen werden, um zum Ende des Jahrzehnts die benötigten Instrumente einsetzen zu können.

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Oesterreichs Energie-Tätigkeitsbericht 2022