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Resilienz statt Rekorde

Während der Ausbau der Erneuerbaren beeindruckende Rekorde liefert, wachsen zugleich die Anforderungen an Netze, Reserven und Systemstabilität. Die Frage rückt ins Zentrum: Wie machen wir unser Stromsystem resilient – technisch, wirtschaftlich und geopolitisch?

Strommasten im Feld
Windflaute: Während derzeit zur Abdeckung von Engpässen primär thermische Kraftwerke dienen, könnte diese Aufgabe in einer dekarbonisierten Welt von einer Kombination aus Erzeugung, Speichern und Grid-Forming-Algorithmen übernommen werden.

Der Umbau des österreichischen Energiesystems steht vor dem Sprung auf das nächste Level. Bereits im Vorjahr war das für 2030 ausgegebene Ziel der bilanziellen Klimaneutralität in der Stromproduktion nahezu erreicht. Österreich hat Strom aus Erneuerbaren im Ausmaß von fast 94 Prozent des Gesamtverbrauchs produziert, an 243 Tagen war Österreich aufgrund von Überschüssen Stromexporteur. Zugleich musste der Übertragungsnetzbetreiber APG an 203 Tagen zu Redispatch-Maßnahmen greifen, um Ungleichgewichte, die durch die volatile Einspeisung aus Erneuerbaren entstehen, auszugleichen. Das hat in Summe rund 87 Millionen Euro gekostet. Investitionen in Netze und in Vorkehrungen, um die Kapazitäten zu schaffen, die es braucht um die Netze stabil zu halten sind daher ebenso dringend nötig, wie der Ausbau selbst. 

Portrait Dr. Barbara Schmidt
„Versorgungs­sicherheit ist wesentlich für einen starken Wirtschaftsstandort – nicht nur der Preis.“ Barbara Schmidt Generalsekretärin von Oesterreichs Energie

Zudem kommt: Die Elektrifizierung vieler energieintensiver Industriebranchen steht noch ebenso aus wie jene des Verkehrs. Die Anforderungen, die auf die Stromwirtschaft zukommen, bleiben daher nach wie vor gigantisch. Denn es ist eine Operation am offenen Herzen: Das System muss laufen, das hochkomplexe Geflecht aus Erzeugung, Verbrauch und Verteilung stabil bleiben, während es zugleich eine Transformation noch nie dagewesenes Ausmaß zu bewältigen gilt. Wir haben fünf Punkte identifiziert, die helfen können, die Resilienz des Energiesystems in dieser fordernden Situation zu stärken.
 

I. Planbarkeit schafft Resilienz, zusätzliche Belastungen nicht

Planbarkeit, kaum ein anderes Wort fällt öfter, wenn Akteurinnen und Akteure aus der Branche nach Ihren Wünschen an den Gesetzgeber gefragt werden. Ein rot-weiß-roter Schulterschluss sei absolut notwendig, um das Elektrizitätswirtschaftsgesetz als verbindliche Planungsgrundlage für die weiteren Transformationsschritte endlich zu beschließen, sagt etwa Michael Strugl, Präsident von Oesterreichs Energie. Denn auch wenn die Branche nicht alle darin festgeschriebenen Regelungen positiv sieht, man brauche das Gesetz, um weiterarbeiten zu können. 

Dr. Michael Strugl
„Österreich braucht einen rot-weiß-roten Schulterschluss für Planungssicherheit bei der Transformation des Energiesystems.“ Michael Strugl Präsident Oesterreichs Energie

Zugleich verweist die Branche auf den massiven Investitionsbedarf, vor dem sie steht: „Wir müssen weiterhin immens viel investieren, nicht nur in erneuerbare Anlagen, sondern auch in Netze, Speicher und Digitalisierung“, sagt Barbara Schmidt, Generalsekretärin von Oesterreichs Energie, und fügt hinzu: „Da geht es um Milliardenbeträge, einen derart riesigen Umbau gibt es nicht umsonst. Doch er ist alternativlos, gerade dann, wenn wir langfristig saubere und leistbare Energie haben wollen.“

Auch Michael Strugl betont, dass der einzige dauerhafte Weg, um Strompreise zu senken, eine Steigerung des Angebots ist, also eben der Ausbau der Erneuerbaren. Wenn man trotzdem unbedingt über weitere Abgaben diskutieren wolle, die die Investitionskraft der E-Wirtschaft schwächen, sollte man, fordert er, zumindest sicherstellen, dass diese Abgaben nicht als Sondermittel zur Budgetsanierung verwendet werden: „Wenn wir einen Beitrag leisten, dann wollen wir, dass dieses Geld nicht im Budget verschwindet, sondern den Stromkunden zugute kommt.“ Nachsatz: „Wir können die Stromrechnung aber viel einfacher schon morgen runterkriegen, indem wir die Steuern auf Energie senken. Das wäre doch das Naheliegende.“ Und es würde die E-Wirtschaft in den für die Resilienz des Systems notwendigen Investitionen nicht behindern.


II. Resilienz braucht Reserven

Sehr dringlich ist es unter anderem Investitionen in die kurzfristige Verfügbarkeit von Kapazitäten für den Redispatch zu sichern, andererseits aber auch strategische Reserven zur Deckung von möglichen kalten Dunkelflauten bereitzustellen. 

„Die Einbeziehung der Nachfrage und deren Flexibilität ist hilfreich und notwendig, um Angebot und Nachfrage in Einklang bringen zu können.“ Gustav Resch Senior Scientist, AIT

„Während derzeit zur Abdeckung von Engpässen primär thermische Kraftwerke dienen, wird diese Aufgabe in einer dekarbonisierten Welt von einer Kombination aus Erzeugung, Speichern und Grid-Forming-Algorithmen übernommen werden“, erklärt Gustav Resch, Spezialist für Energiesysteme und Senior Scientist am AIT Austrian Institute of Technology. „Ebenso ist die Einbeziehung der Nachfrage bzw. deren Flexibilität hilfreich und teils notwendig, um Angebot und Nachfrage in Einklang bringen zu können.“ Technisch sei das möglich, es müsse allerdings Anreize geben, damit solche Investitionen tatsächlich getätigt werden. 

„Solche Anreize richtig aufzusetzen, ist allerdings alles andere denn trivial, aber dringend notwendig“, sagt Reschs Kollegin Tara Esterl. Sie leitet am AIT das Competence Unit Integrated Energy Systems: „Wenn man sich am European oder am National Resource Adequacy Assessment orientiert, das Übertragungsnetzbetreiber durchführen müssen, um abzuschätzen, ob in ihrem Bereich Kapazitätsengpässe zu erwarten sind, dann zeigt sich, dass es in Österreich im Jahr 2035 erstmals zu Stunden kommen kann, in denen nicht die komplette Last gedeckt werden kann.“ 

Dann, führt Esterl aus, habe man zwar noch immer die Möglichkeit zu überlegen, ob zu bestimmten Zeiten einzelne Verbraucher abgeschaltet oder deren Verbrauch gedrosselt werden könnte, aber im Kern sei die Botschaft klar: „Österreich wird eine Lösung für die Kapazitätslücke brauchen. Bis 2035, das mag lang klingen. Wenn man aber bedenkt, wie lange die Errichtung von Anlagen dauert und wie lange die vorgeschalteten Genehmigungsverfahren brauchen, dann ist die Zeit bereits knapp.“
Um Kapazitätslücken zu schließen, existieren unterschiedliche Möglichkeiten: Man kann wie bisher auf einen Energy-Only-Markt setzen und versuchen, das Marktdesign dahingehend zu ändern, dass nicht nur die Energie, sondern auch Kapazitäten gehandelt werden. Man könnte die Bereitstellung von Kapazitäten aber auch direkt dem Staat überlassen. Während diese beiden Ideen ihre Vor- und Nachteile haben, erscheint ein dritter möglicher Zugang wenig praktikabel, wie Gustav Resch erläutert: „Die Idee, Kapazitäten in irgendeiner Form aus dem Budget zu finanzieren, würde neben einer Marktverzerrung auch einen massiven Unsicherheitsfaktor mit sich bringen, weil die Akteure dann unter Umständen mit volatilen Rahmenbedingungen hinsichtlich Finanzierung konfrontiert wären.“ 


III. Resilienz braucht ein passendes Strommarktdesign

Die größte Schwierigkeit bei der Lösung des Kapazitätenproblems durch einen Energy-Only-Markt ist schnell beschrieben: In einem solchen Markt sind nur dann genügend Anreize für Investitionen in steuerbare Kapazitäten gegeben, wenn es zeitweise hohe Knappheitspreise gibt. Wenn also zum Beispiel thermische Kraftwerke in den wenigen Stunden, in denen sie benötigt werden, derart hohe Erlöse erzielen können, dass sich ihr Betrieb, ihre Instandhaltung und ihre Modernisierung dennoch rechnen. „Ein reines Merit Order-System kann das leisten“, sagt Tara Esterl. „Wir erleben allerdings eine zunehmend sinkende Akzeptanz dafür, dass es in einem solchen System zu gewissen beschränkten Zeiten eben sehr hohe Strompreise gibt.“

Tara Esterl, Team Lead Competence Unit Integrated Energy Systems, AIT
„Österreich wird eine Lösung für die Kapazitäts­lücke brauchen. Bis 2035, das mag lang klingen. Wenn man aber die Vorlaufzeiten bedenkt, dann ist die Zeit bereits knapp.“ Tara Esterl Team Lead Competence Unit Integrated Energy Systems, AIT

Besteht die politische Übereinkunft darüber, solche Preise mildern bzw. nicht zulassen zu wollen, muss man über irgendeine Form der Zusatzfinanzierung nachdenken. Untersuchungen des AIT im Projekt TeKaVe zeigen, dass in Österreich ein Kapazitätsmarkt die ausgewogenste Lösung darstellt. „Nur auf Flexibilitäten zu setzen, wäre zwar kostengünstig, würde aber den Markt auf Kosten von flexibel regelbarer Produktion verzerren. Für eine strategische Reserve von Kraftwerken, die nicht am Markt teilnehmen, aber für den Notfall in Bereitschaft gehalten werden, fehlt das Volumen an Anlagen, die dafür in Frage kommen. In Österreich bräuchten wir eher neue Kapazitäten bzw. auch eine zeitnahe Erneuerung bestehender Kapazitäten, wie zum Beispiel der Anlage in Simmering“, erläutert Esterl. 

Bei einer Einführung neuer Marktelemente sollte man jedenfalls nicht allzu stark in die Merit Order-Preisbildung eingreifen: „Wenn wir sehr stark in die Merit Order eingreifen, kann nämlich irgendwann der Fall eintreten, dass das Niveau an Versorgungssicherheit, das wir gewohnt sind, nicht mehr zur Gänze gehalten werden kann. Ob das gewollt wird oder nicht, ist letztlich eine politische Frage.“


IV. Resilienz hat europäische Dimension

In einigen Ländern Europas, etwa Polen oder Schweden, gibt es bereits Mechanismen, die die Bereitstellung von Kapazitäten zur Netzstützung und als strategische Reserve fördern. Dabei wird nicht nur im Sinne der Versorgungssicherheit, sondern immer wieder auch zur Sekung von Strompreisen über Markteingriffe gesprochen. 

Christian Kimmich, Ressourcenökonom, IHS
„Aus klimaökonomischer Sicht ist ein hoher CO₂-Preis rational, weil er den realen sozialen und ökologischen Folgekosten Rechnung trägt.“ Christian Kimmich Ressourcenökonom, IHS

Der Experte für Ressourcenökonomie und Senior Researcher am Institut für Höhere Studien IHS, Christian Kimmich, hält von solchen Ideen wenig, ebenso wie von einem Aussetzen der CO2-Bepreisung: „Das könnte die Wettbewerbsfähigkeit Europas im Vergleich zu den USA und China zwar kurzfristig verbessern. Wir kommen dann aber in einen Zielkonflikt: Denn aus klimaökonomischer Sicht ist ein hoher CO2-Preis rational, weil er den realen sozialen und ökologischen Folgekosten Rechnung trägt.“ Über Reserven zu diskutieren sei allerdings etwas anderes.

Kristian Ruby, Generalsekretär Eurelectric
„Wir müssen vermeiden, in Zukunft in eine Situation zu geraten, in der ein anderes Land Europa Bedingungen diktiert, weil es die Lieferketten für saubere Energietechnologien kontrolliert.“ Kristian Ruby Generalsekretär Eurelectric

Nach Jahren, in denen das Thema fast ausschließlich unter Expertinnen und Experten besprochen wurde, hat die Auseinandersetzung um Netzreserven und strategische Kapazitäten inzwischen auch eine breitere politische Öffentlichkeit erreicht. „Die EU erkennt nun an, dass Netzreserven und Redispatch-Leistungen ein notwendiger Bestandteil der Versorgungssicherheit sind und es keine Marktverzerrung darstellt, wenn sie als notwendiger Beitrag zur Versorgungssicherheit transparent ausgeschrieben und entgolten werden – vorausgesetzt natürlich, es besteht begründeter technischer Bedarf“, kommentiert die Entwicklung E-Control-Vorstand Alfons Haber.

Zugleich weist er aber auch auf die Schwierigkeiten hin, die sich beim Übergang von einem Energy-Only-Market, bei dem ausschließlich für tatsächlich gelieferte Energie bezahlt wird, zu einem Markt, der auch das Vorhalten von Reserven honoriert, ergeben. „Damit zuverlässige Regeln für einen solchen Kapazitätsmarkt etabliert werden können, muss es einen zuverlässigen Mechanismus geben, um den Bedarf einzuschätzen. Sonst fallen zum Beispiel die Reserven zu groß aus, was unnötig hohe Kosten verursacht.“ Immerhin haben die bis zum Jahr 2023 in der EU implementierten Kapazitätsmechanismen mit rund 7,5 Milliarden Euro erhebliche Kosten verursacht.

Alfons Haber
„Damit zuver­lässige Regeln für einen Kapazitätsmarkt etabliert werden können, muss es einen zuverlässigen Mechanismus geben, um den Bedarf einzuschätzen.“ Alfons Haber Vorstand E-Control

Kristian Ruby, Generalsekretär des europäischen Branchenverbands der Elektrizitätswirtschaft Eurelectric, kennt diese Rechnung. Angesichts der immer komplexeren Transformationsherausforderungen hält er Kapazitätsmärkte aber für eine gute Idee: „In einem System, in dem Wind- und Solarenergie den Großteil der Stromproduktion ausmachen, haben konventionelle Kraftwerke weniger Betriebsstunden und kämpfen daher mit der Rentabilität. Diese Kraftwerke werden jedoch benötigt, um das System stabil zu halten. Kapazitätsmärkte können dazu beitragen, für sie ein tragfähiges Geschäftsmodell zu schaffen.“
 

V. Nicht alles in unseren Händen: Geopolitik als Resilienzfaktor

Über allen Zukunftsüberlegungen darf allerdings nicht vergessen werden: Selbst beim Maximaltempo wird Erdgas noch länger ein Bestandteil des europäischen Stromsystems bleiben. Es zu beschaffen und Versorgungssicherheit zu garantieren, gelang bislang Europa allen Hürden zum Trotz gut.

In seinem jüngsten 19. Sanktionspaket gegen Russland hat Europa allerdings beschlossen, ab 1. Jänner 2027 die auf Pipelinegas bestehenden Sanktionen auch auf russisches LNG auszudehnen. Damit ändert sich die Situation, sagt Politikwissenschafter Gerhard Mangott, Russlandexperte und Universitätsprofessor an der Universität Innsbruck: „Europa hat die absolut nachvollziehbare und legitime Entscheidung getroffen, dass die Verhinderung des russischen Vorrückens in der Ukraine Priorität vor allen anderen Aspekten hat, etwa jenem der Energieversorgung.“

Gerhard Mangott, Professor für internationale Beziehungen, Universität Innsbruck
„Europa hat die legitime Entscheidung getroffen, dass die Verhinderung des russischen Vorrückens in der Ukraine Priorität vor allen anderen Aspekten hat, etwa jenem der Energieversorgung.“ Gerhard Mangott Professor für internationale Beziehungen, Universität Innsbruck

In der Folge habe man die Abhängigkeit von Russland, das vor dem Krieg in der Ukraine 44 Prozent des europäischen Gasbedarfs lieferte, gegen eine Abhängigkeit von den USA getauscht. Aktuell kommen bis zu 60 Prozent des europäischen Gasimports aus den USA. Das sei, sagt Mangott, zum Teil durch die Verfügbarkeit bedingt, zum Teil aber auch durch politische Überlegungen. „Indem man gegenüber den USA in Vorleistung gegangen ist und sich verpflichtet hat, große Gasmengen abzunehmen, wollte man sich auch die Zusage erkaufen, dass die USA den Kampf der Ukraine und die europäischen Interessen gegen Russland unterstützen werden.“

„Seit dem Amtsantritt von Donald Trump deutet allerdings wenig darauf hin, dass die USA ihren Teil des Deals erfüllen würden“, sagt Mangott. Der Professor ortet auch wenig Aussichten dafür, dass der Krieg zu einem baldigen Ende kommt: „Die einzige Möglichkeit, die ich derzeit sehe, ist, dass er durch militärische Erschöpfung der beiden Parteien endet. Doch davon sind wir noch weit entfernt.“

Europa muss sich, sagt Mangott, daher auf ein Fortbestehen des Konflikts einstellen – mit all seinen energiepolitischen Implikationen. Das betrifft einerseits die Notwendigkeit, die von außen bezogene Energie zu diversifizieren. Es brauche aber auch ein noch stärkeres Bewusstsein dafür, dass die europäische Energieinfrastruktur jederzeit zum Schauplatz des Konflikts zwischen Russland und dem Westen werden kann.

Dem schließt sich auch Kristian Ruby an: „Wir haben in der EU das Potenzial, sehr große Mengen an Erneuerbaren Energien und Speichern auszubauen. Das wird für unsere Energiesicherheit einen großen Unterschied machen. Aber wir müssen vermeiden, in Zukunft in eine Situation zu geraten, in der ein anderes Land Europa Bedingungen diktiert, weil es die Lieferketten für saubere Energietechnologien kontrolliert.“

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