Reparatur 380-kV-Erdkabel: Operation am Nervenstrang
Die Reparatur eines 380-kV-Erdkabels ist eine wochenlange Operation am offenen System der Stromversorgung. StromLinie war dabei, als in Wien ein Nervenstrang erneuert wurde.
Es ist vermutlich bei Bauarbeiten passiert, Schuld war ein unachtsamer Baggerfahrer. Im August haben Mitarbeiter der Wiener Netze eine Störung im unterirdisch verlegten Hochspannungskabel unter dem Verkehrsknoten Linke Wienzeile entdeckt. Es war nur leicht eingedrückt, doch das Kabel musste sofort stillgelegt und inspiziert werden. „Es gibt für jeden Stromanschluss mindestens eine zweite Anspeisung als Backup, quasi eine redundante Absicherung“, sagt Christian Call, Sprecher der Wiener Netze. Eine kurzfristige Abschaltung war also kein Problem. Was bei der Inspektion gefunden wurde jedoch schon: Einige wenige der leitenden Drähte einer Litze waren beschädigt – und mussten, um die Leitung wieder zu hundert Prozent funktionsfähig zu machen, repariert werden.
16 Meter.
Im Vergleich zu einer Freileitung ist die Reparatur eines Erdkabels wesentlich aufwendiger und nimmt um ein Vielfaches mehr Zeit in Anspruch. Ein Erdkabel ist wesentlich komplexer aufgebaut als eine Freileitung. Eine ausgeklügelte Isolation besteht aus vielen Schichten, die auf wenigen Zentimetern Spannung von 230 Tausend Volt innerhalb von 23 mm auf null abgebaut werden. Als Anfang Oktober mit den Reparaturarbeiten begonnen werden konnte, musste nach dem Ausheben der Arbeitskünette vorerst das Kabel auf einer Länge von 16 Metern komplett freigelegt werden.
Minus 196 Grad.
Dann lag es also frei, das 380-kV-Erdkabel, 15 cm dick und aus vielen einzelnen dünneren Drähten bestehend, von vielen isolierenden Schichten getrennt. Die Herausforderung: Das Kabel musste an der richtigen Stelle geschnitten und seitlich verschwenkt werden – und zwar bei mindestens 196 Grad unter null. Denn die Isolierung der drei einzelnen Phasenleiter besteht aus einer dicken Schicht Spezialpapier, die mit einer speziellen biologisch abbaubaren Isolierflüssigkeit getränkt ist. Beträgt die Temperatur beim Schnitt über 196 Grad minus, kann die Isolierflüssigkeit auslaufen.
Nervenenden.
Es braucht internationale Experten – nur drei Unternehmen weltweit können solche Operationen durchführen –, um den nächsten Schritt zu gehen: Die stromführenden Litzen müssen unter diesen Bedingungen wie einzelne Nervenfasern verbunden und mit Isolierschicht aufgebaut werden. Die Verbindung stellte eine sogenannte Muffe, vergleichbar mit einer riesigen Klemmverbindung, dar: Diese wurde speziell für die Reparatur an der Wienzeile entwickelt. „Das hat die Reparaturdauer enorm verkürzt“, sagt Christian Call von den Wiener Netzen. Dauert eine solche normalerweise vier bis sechs Monate, war man in Wien mit der Wiederinstandsetzung schon in drei Monaten fertig.
Spezialwissen.
Besonders stolz ist man in Wien auf die neu entwickelte Spezialmuffe. Diese konnte die Arbeitszeit direkt am unterirdischen Kabel von mehreren Wochen auf nur 11 Tage reduzieren. Die Herstellung und Lieferung dieser Spezialmuffe dauert üblicherweise über sechs Monate. Von den Produzenten existieren nur mehr einer in Europa und drei weltweit, in Österreich wurde die Produktion bereits vor vielen Jahren eingestellt. Das Problem: Die Halbwertszeit von Wissen beträgt nur mehr drei oder vier Jahre, daher müssen die Monteure permanent diese Arbeiten durchführen, um nichts zu verlernen. Um für zukünftige Ereignisse vorbereitet zu sein, haben die Wiener Netze insgesamt drei Muffen bestellt und zwei davon auf
Lager gelegt.
StromLinie erscheint im Quartalsabstand und behandelt alle für die Energiebranche relevanten Themen aus dem In- und – speziell europäischen – Ausland.
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