Kristian Ruby über Strommarktdesign und die Abkehr von Dogmen
Kristian Ruby sitzt für die europäische Energiewirtschaft mit am Tisch, wenn in Europa über den Strommarkt entschieden werden soll. Der gebürtige Däne über die Umsetzung des neuen Strommarktdesigns, die Lehren aus russischer Marktmanipulation, die Abkehr von EU-Dogmen und warum sich Dänen Europa voller Windräder vorstellen.
Herr Ruby, Sie sind als Generalsekretär von Eurelectric nah dran an der Entstehung von EU-Gesetzgebungsverfahren. Wie ist der Status quo beim Paket zum Strommarktdesign?
Kristian Ruby: Vor anderthalb Jahren standen wir vor einer Situation, wie wir sie nie zuvor hatten in Europa: Die Invasion Russlands in der Ukraine, Manipulationen der Energiemärkte, die Strompreise gingen durch die Decke. Es war klar, dass die Politik was tun muss. Zuallererst haben wir ganz radikale Signale von der Kommission empfangen; das ganze Marktdesign, so wie wir es bisher kannten, sollte aus dem Fenster geschmissen und das Prinzip der Grenzkosten-Preise abgeschafft werden. Das war eine Situation politischer Panik. Für uns ging es darum sicherzustellen, dass wir Chaos am Markt verhindern, Evolution statt Revolution. Als wir dann gesehen haben, was von der Kommission letztlich an konkreten Vorschlägen kam, war das schon viel besser. Man hat die Preisdeckel von Einzeltechnologien nicht in die Gesetzgebung hineingeschrieben, man hat den Versuch gemacht, bessere, langfristige Investitionsanreize in die Marktregelung einzubringen. Wir fanden den Vorschlag relativ ausgewogen – mit vielen Ansätzen zur Verbesserung.
Der Vorschlag der Kommission war allerdings nur der erste Schritt zum neuen Marktdesign …
Ruby: Jetzt sind wir in einer Phase, in der sich die Europaparlamentarier geeinigt haben – und auch die Diskussion zwischen den Mitgliedsstaaten stattgefunden hat. Im Parlament gab es einen gewissen Pragmatismus, man hat eingesehen, dass die Stromwirtschaft zu wichtig und der Ausbau der Erneuerbaren zu essenziell ist, um jetzt alles auf den Kopf zu stellen. Im Rat – also in der Diskussion zwischen den Mitgliedsstaaten, die darauf folgte – ging es vor allem um Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit, etwa die Fragen der Verlängerung der Kohleverstromung in Polen und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und der französischen Industrie. Wir haben jetzt ein Abkommen auch im Rat, und meine Erwartung ist, dass wir dieses Dossier noch vor dem Ende der Legislaturperiode dieser Kommission schließen können. Das wäre auch sehr wichtig, um die Unsicherheit für die Investitionsbedingungen der Energiewirtschaft zu beenden
Kristian Ruby
ist seit 2017 Generalsekretär des Branchenverbandes Eurelectric. Der Verband repräsentiert den europäischen Stromsektor mit Mitgliedern in mehr als 32 europäischen Staaten, darunter auch Österreich, und bündelt somit die Interessenvertretung von mehr als 3.500 Unternehmen in den Bereichen Stromerzeugung, Verteilung und Versorgung. Zuvor war der gebürtige Däne Chief Policy Officer bei Wind Europe und Assistent der früheren Klimakommissarin Connie Hedegaard. Das Interview wurde auf Deutsch geführt – in Rubys dritter Fremdsprache.
Bis wann sollte eine Einigung erfolgen, damit sich das in der aktuellen Legislaturperiode noch ausgeht?
Ruby: Der Plan ist, dass man bis 14. Dezember einen Deal findet.
Der Grund für die EU-Kommission, sich überhaupt mit dem Strommarktdesign auseinanderzusetzen, war die Krise im Energiemarkt 2022. Ist mit den Plänen zum neuen Strommarktdesign eigentlich ein Automatismus eingebaut, in den die EU wieder eingreifen kann, sollte es erneut zu Turbulenzen kommen?
Ruby: Das ist ein Schlüsselpunkt der Reform: Für uns war es sehr wichtig, dass es einen geordneten Prozess gibt, in dem objektive Kriterien ein erneutes Eingreifen der Politik auslösen. Im derzeitigen Plan sind es Elemente wie die Höhe des Preises und Folgen auf gesamtwirtschaftlicher Ebene, die einen solchen geordneten Eingriff auslösen würden. Wichtig war uns, dass nicht jede Marktvolatilität der Politik erneut Legitimität gibt, sich immer neue Maßnahmen auszudenken
Kommen wir zu den Details des Strommarktdesigns: Die Abschaffung des sogenannten Merit-Order-Prinzips, also der Grenzkosten-Preise, die den Strompreis bestimmen, ist schon seit längerem vom Tisch. Gehen Sie davon aus, dass diese Diskussion damit für immer beendet ist?
Ruby: (lacht) Man soll niemals nie sagen. Eigentlich ist etwas Gutes passiert: Alle Stakeholder haben anerkannt, dass der Grenzkosten-Zugang die Grundlage für den Markt sein muss. Wir haben aber – und das hat Vladimir Putin bewiesen – auch gesehen, dass, wenn gezielte Versuche unternommen werden, man diesen Markt manipulieren kann. Deshalb gibt es jetzt Anreize, mit langfristigen Verträgen, sogenannten PPAs (Power Purchasing Agreements, Anm. d. Red.), dem entgegenzuwirken.
Eigentlich ist das Forcieren dieser langfristigen Stromverträge eine Abkehr von der bisherigen Politik der EU, die sehr auf Marktpreisfindung über die Börse gesetzt hat …
Ruby: Es gab lange Zeit Anreize der Kommission im Zuge der Strommarktliberalisierung, wirklich alles in Short Term Markets abzubilden. Es gab sogar Staaten, in denen es verboten war, Strom in langfristigen Stromlieferverträgen zu regeln. Diese Politik der EU kommt aus einer Zeit, in der wirklich der gesamte Strommarkt von Monopolen in langfristigen, sehr intransparenten Verträgen mit einzelnen Kunden gemacht wurde. Man wusste nicht, wie die Kontrakte entstanden sind und auf welcher Basis. Deshalb war der Zugang der EU jener zu sagen: „Lasst uns Hinterzimmerverträge durch den transparenten Stromhandel ersetzen.“ Eine gewisse Volatilität wurde dabei in Kauf genommen – gezielte Marktmanipulation von externen Akteuren wie im Zuge der russischen Invasion in der Ukraine natürlich nicht.
Angesichts der Ereignisse der letzten Monate und mit Blick auf die Energiewende ist es sehr wahrscheinlich, dass sich Preise in wenigen Monaten auch höchst dramatisch in jede Richtung verändern können. Wie realistisch ist es, dass diese Power Purchasing Agreements breiten Einsatz finden werden?
Ruby: Wir haben schon gesehen, dass in Zeiten extremer Preisänderung nicht viele PPAs geschlossen werden. Andererseits: Hätten wir 2022, nach vielen Jahren relativ stabiler Preise, eine Kombination aus langfristigen Kontrakten und Short-Term-Kontrakten gehabt, dann wäre der Impact der Manipulationen Russlands nicht so tiefgreifend gewesen.
Ein anderes Element des neuen Strommarktdesigns ist die Empfehlung der Einführung von Differenzkontrakten, also einem Modell, das einen Mindestpreis zur Investitionssicherheit für die Energiebranche garantiert und dafür im Gegenzug Höchstpreise abschöpft. Wie ist da der Stand der Dinge?
Ruby: Es gab am Höhepunkt der Energiekrise ganz konkrete Vorschläge, den Grenzkostenmarkt völlig abzuschaffen – und alle neu geschaffenen Kapazitäten in das Differenzkontrakt-Modell einzubinden. Für uns war das viel zu weitgehend. Wir glauben daran, dass der Grenzkostenmarkt einen großen Wert hat, auch weil er die einzelnen Länder in Europa zusammenbindet. Der Grund, warum in Europa das Licht während der Energiekrise 2022 nicht ausgegangen ist, ist, weil Europa ein offener Markt ist. Es gab in der Krise Zeiten, in denen Deutschland von Frankreich Gas bekommen hat – und Frankreich im Gegenzug von allen europäischen Nationen Strom bezogen hat. Das war nur durch den Binnenmarkt möglich.
Scheinbar hat sich Ihre Auffassung aber nicht ganz durchgesetzt, denn Differenzkontrakte werden den Mitgliedsstaaten von der EU-Kommission zur Sicherung des Ausbaus Erneuerbarer eindeutig empfohlen …
Ruby: Differenzkontrakte, geschlossen mit Regierungen für riesige Infrastrukturprojekte wie Off-Shore-Windparks, sind Förderinstrumente für Investitionssicherheit – und die machen natürlich Sinn. In dieser Diskussion ging es jedoch darum, alle neuen Stromkapazitäten in solche Differenzkontrakte einzubinden – doch damit beschädigt man weite Teile aller anderen Strommärkte. Nehmen Sie den Forward-Markt, in dem Unternehmen ihre Preise für die Zukunft sichern. Es ist immer sehr verlockend für einen Politiker, drastische Vorschläge zu machen, im Detail zeigt sich, dass der komplexe und höchst effiziente Strommarkt nicht über Nacht einfach revolutioniert werden kann.
Derzeit hören wir viel von Aktionsplänen der EU. Diese haben empfehlenden Charakter. Noch gibt es wenige bindende Legislativvorschläge. Wie schätzen Sie die Auswirkung von Aktionsplänen, etwa jenen für Windkraft oder für Netze, auf die tatsächliche Umsetzung ein?
Ruby: Wir sind Befürworter von Aktionsplänen. Warum? Weil wir in den letzten fünf Jahren enorm viel Gesetzgebung bekommen haben. Wir haben irre viele Ziele: Erneuerbaren-Ziel, Energieeffizienzziel, ein CO2-Ziel, unter der Erneuerbaren-Richtlinie gibt es Einzelziele für E-Mobilität, für Industrie, für Heizung. Und ehrlich gesagt kommen wir zu einem Punkt, wo das Risiko besteht, dass wir uns ins Mikro-Management der Sektoren hineinbewegen. Es ist Zeit, den Fokus auf die Umsetzung zu legen. Wir schulden der nächsten Generation, dass wir nicht nur Gesetze machen, sondern auch Windanlagen und Kraftwerke bauen. Alles, was man in formale Gesetzgebung einbindet, kann frühestens in 3 Jahren in nationale Gesetze gegossen werden. Das ist viel zu lange. Wir haben diese Zeit einfach nicht mehr.
Weil Sie die Beschleunigung der Umsetzung erwähnt haben: Einige der Renewable Energy Directives beinhalten Maßnahmen zur Beschleunigung der Umsetzung. Etwa den Vorrang des Klimaschutzes vor dem Landschaftsschutz, das sogenannte Overriding Public Interest. Meinen Sie, dass das genug war, um in Europa Effekte zu erzielen? Wird die EU da auf die Mitgliedsstaaten weiter Druck machen? In Österreich steht ja oft Klimaschutz nicht über Landschaftsschutz …
Ruby: Ich glaube, mit dem Overriding Public Interest ist tatsächlich ein Meilenstein gelungen – und es ist das beste Beispiel dafür, dass wir nicht weitere Gesetze brauchen: Hier ist den Mitgliedsstaaten der EU jetzt erstmals ein Mittel an die Hand gegeben worden, um die Beschleunigung des Ausbaus Erneuerbarer herbeizuführen. Das ist Gesetz – die Umsetzung wird die Kommission als Wächterin des Vertrags sehr ernst nehmen. Ich höre das auch aus der Kommission selbst, dass, während der letzten Jahre Politikentwicklung im Vordergrund gestanden ist, jetzt die Umsetzung in den Fokus kommen wird.
In der Frage der Erzeugungstechnologien scheint Europa komplett zersplittert: Während für Österreicher Atomkraft ein absolutes No-Go ist, scheinen Franzosen die Wasserkraft ziemlich kritisch zu sehen. Deutsche sehen Biomasse sehr kritisch…
Ruby: (lacht) … für Dänen ist alles außer Windkraft Frevel, aber ich glaube, Frankreich mag Wasserkraft sehr gerne. Im Ernst: Die Frage der Erzeugungstechnologien ist die, die am meisten Emotion in Europa hervorruft – und sie hat ganz viel mit der Historie der Energieerzeugung in dem jeweiligen Land zu tun. Die Energiewende wird ganz schön herausfordernd für uns, und ich glaube, wir kommen nicht darum herum, den einzelnen Regionen Europas die Flexibilität zu geben, das so zu gestalten, wie sie es können. Wir müssen diese Energiewende mit einer gesunden Portion Pragmatik angehen. Besonders, weil wir Erdgas – anders als noch vor 3 Jahren – als Brückentechnologie nicht mehr haben werden. Es ist sehr leicht für einen Dänen, sich überall Windräder vorzustellen. Wir müssen einander in Europa zuhören und verstehen, dass an anderen Orten eine andere Mischung von Technologien gebraucht wird.
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