Europas Industrie unter Druck
Energiepreise. Europa steht vor einem schwierigen Spagat. Wie kann die Transformation des Energiesystems gelingen, ohne die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft zu gefährden? Wie können die europäischen Energiepreise im internationalen Vergleich wieder wettbewerbsfähiger werden?

Die Warnungen sind unüberhörbar. Hohe Energiepreise gefährden die Zukunft der heimischen Wirtschaft, schreiben Kommentatoren. Vertreter der Industrie formulieren es noch drastischer. „Die Deindustrialisierung findet statt“, urteilte Anfang des Jahres anlässlich eines Pressetermins der Präsident der Industriellenvereinigung Georg Knill.
Doch wie schlimm ist die Situation aus Sicht von Wirtschaftswissenschaftlern wirklich? IHS-Chef Holger Bonin sieht das differenziert: „Deindustrialisierung meint für mich eine Entwicklung, bei der in einer Volkswirtschaft langfristig Industriejobs verloren gehen und die Zahl der Jobs im Dienstleistungssektor zunimmt. Die Entwicklung, die wir derzeit in Österreich beobachten, würde ich Industrieschwäche nennen. Von einem totalen Zusammenbruch der Industrie, wie es der Begriff Deindustrialisierung nahelegen mag, sind wir weit entfernt.“

Langfristig gefährlich
Der Industrieökonom Harald Oberhofer, Professor an der WU Wien und am WIFO in der Forschungsgruppe Industrie-, Innovations- und internationale Ökonomie tätig, sieht es ähnlich. „Energiekosten sind auf jeden Fall ein wichtiger Standortfaktor“, sagt er, doch kurzfristige Preisschwankungen könne die Industrie verdauen. „Mittel- und langfristig werden hohe Energiepreise aber zu einer Belastung und können zur Abwanderung führen. Es ist gut vorstellbar, dass europäische Unternehmen dann Richtung USA ziehen.“ Rund doppelt so hoch wie in Amerika sind in Europa die Stromkosten für die Industrie, für Gas sogar drei Mal so hoch.
Doch auch anderswo in Europa ist die Lage fordernd, die industrielle Produktion geht überall auf dem Kontinent zurück. „Wie stark, das sieht man unter anderem daran, dass 2022 rund 50 Prozent der Verbrauchsreduktion von Gas in der Industrie auf Produktionsrückgänge zurückzuführen waren“, erklärt Malte Küper. Er forscht am Institut der deutschen Wirtschaft zu Energie und Rohstoffen.
Wie viele seiner Ökonomen-Kollegen findet auch Küper, dass es zu einfach wäre, die Schwäche der europäischen Industrie monokausal mit den hohen Energiekosten zu erklären. In der aktuellen CO2-Bepreisung, die auf die Energiepreise durchschlägt, sieht er allerdings einen diskussionswürdigen Punkt: „Nur rund ein Viertel der weltweiten Treibhausgasemissionen ist durch CO2-Bepreisung abgedeckt. Nirgendwo sind die CO2-Ziele so ambitioniert wie in Europa. Das ergibt eine enorme Zusatzbelastung.“
Kosten von CO2
WU-Professor Harald Oberhofer geht in seiner Analyse nicht ganz so weit. Bislang, urteilt er, sei die CO2-Bepreisung für Europa kein wirklicher Standortnachteil gewesen, denn auch die anderen großen Volkswirtschaften, USA und China, haben Lenkungselemente implementiert, die die Nutzung fossiler Energiequellen verteuerten. „Bislang“, rekapituliert Oberhofer, „hat es in den drei großen Wirtschaftsblöcken das Bestreben der Dekarbonisierung gegeben. Mit Donald Trump wird sich das vermutlich ändern. Wenn Europa dann als einziger Block übrigbleibt, der sich den CO2-Reduktionszielen verpflichtet fühlt, wird es von der globalen Wettbewerbssituation her für die Europäer schwierig.“

Mit einem Grenzausgleichsmechanismus, dem Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM), will die EU Importeure dazu verpflichten, die Differenz zwischen dem europäischen CO2-Preis und dem CO2-Preis des Produktionslandes auszugleichen und so die Auslagerung von CO2-intensiver Produktion zu verhindern. Doch Industrievertreter sehen das Instrument nicht uneingeschränkt positiv. Zum einen fürchtet man weitere bürokratische Belastungen, zum anderen stellt sich auch die Frage nach der Kompatibilität des CBAM-Mechanismus mit den Regeln der Welthandelsorganisation WTO. Eine wichtige Rolle in diesem Kontext spielt die Entscheidung, ob die im Rahmen von CBAM vorgesehenen Zahlungen als Steuer zu betrachten sind oder nicht.
Klare Linie gefragt
Auf einen anderen Punkt macht Holger Bonin aufmerksam. „Wenn es darum geht, zu dekarbonisieren, dann ist CO2-Bepreisung ein gutes Instrument. Solange fossile Energieträger gebraucht werden, und das wird noch länger der Fall sein, macht die CO2-Bepreisung Energie aber auch teurer.“
Wie mit dieser Tatsache umgegangen wird, ist letztlich eine Entscheidung der Politik. „Auf jeden Fall kontraproduktiv“, sagt Bonin, „ist es aber, dass bei den CO2-Vorgaben keine klare Linie erkennbar ist.“ Einerseits gebe es ambitionierte Einsparziele, andererseits kommen immer wieder Diskussionen auf, ob diese Ziele nicht doch aufgeweicht werden sollten. „So lange Unternehmen aber nicht wissen, wie es weitergehen wird, sind sie bei Investitionen in Energiesparmaßnahmen bzw. in grüne Technologien zurückhaltend.“
Es ist in der Tat eine schwierige Situation. Auf der einen Seite verursacht die Transformation des Energiesystems Kosten, die sich auf den Preis auswirken, auf der anderen Seite ist langfristig eine Beschleunigung des Erneuerbaren-Ausbaus der beste Weg, um Unternehmen zu entlasten und Europa wirtschaftlich stärker und unabhängiger zu machen.
Aus diesem Grund sollte alles versucht werden, um die Kosten für den Erneuerbaren-Ausbau zu senken, findet Malte Küper und nennt ein deutsches Beispiel, um zu zeigen, dass er nicht zwingend Förderungen meint: „Die Erdverkabelung ist nach Angaben von Netzbetreibern etwa viermal so teuer wie eine Freileitung. Würde man verstärkt auf Freileitungen setzen, könnte man daher mit den gleichen Mitteln mehr an Netzausbau schaffen.“
Kein direkter Markteingriff
Direkte Eingriffe in den Energiemarkt, etwa über einen niedrigen, subventionierten Industriestrompreis findet Küper, wie die meisten Ökonomen, hingegen nicht besonders sinnvoll. „Das kostet viel, ändert aber nichts an den strukturellen Problemen“, betont auch Holger Bonin. Auf jeden Fall hilfreich wäre hingegen eine Diskussion darüber, wie der für die Energiewende notwendige Infrastrukturausbau finanziert werden kann: „Diese Kosten wird man nicht zur Gänze auf den Strompreis umlegen können“, sagt Bonin.

Auch der Draghi-Report über die Wettbewerbsfähigkeit Europas bietet viele Hinweise, wie Europa die Energiepreise stabilisieren kann. Eine Vervollständigung des europäischen Binnenmarkts für Energie ist dabei ein zentraler Punkt. „Österreich würde davon auf jeden Fall profitieren, weil es dann in Europa zu einer Annäherung der Energiepreise in den einzelnen Mitgliedsstaaten käme“, bestätigt WU-Professor Oberhofer.
Strukturelle Schwächen
Dass Österreichs Unternehmen stärker als andere von der Energiekrise getroffen wurden, hat allerdings auch Gründe, die nicht im Energiesystem liegen. Die österreichische Form der Lohnsetzung, die sich nach wie vor an der berühmten „Benya-Formel“ orientiert, ist einer davon. Die Formel besagt, dass bei Lohnverhandlungen die rollierende Inflation der letzten zwölf Monate als Ausgangspunkt für die Verhandlungen genommen wird. Dazu kommen je nach Produktivität Zu-, seltener Abschläge.
„Solange die Inflation, wie das lange Zeit der Fall war, stabil blieb und bei rund zwei Prozent lang, war diese Formel kein großes Problem“, erklärt IHS-Chef Bonin. „In der jüngsten Vergangenheit hat die Benya-Formel allerdings dazu geführt, dass die Unternehmen von den explosiv steigenden Energiekosten gleich zwei Mal getroffen wurden. Zunächst direkt durch den Preisanstieg selbst, dann aber auch zwölf Monate später, weil die Energiekosten einer der Haupttreiber der Inflation und mitverantwortlich für die hohen Lohnabschlüsse waren.“ Nun versuche man mit Öffnungsklauseln oder längeren Laufzeiten der Kollektivverträge das System anzupassen.
Das nächste große Ding
Bei aller Krisenlage darf allerdings auch nicht aus den Augen verloren werden, dass die grüne Transformation für Europa nach wie vor riesige Chancen bietet. „Gerade in der Industrie bräuchten viele Unternehmen aber Unterstützung, um ihre Geschäftsmodelle so zu verändern, dass sie von diesen Chancen auch profitieren, etwa in Form von Anreizen für entsprechende Investitionen“, sagt Malte Küper.
Wobei: Was die nächste ganz große, bahnbrechende Innovation sein wird, die der globalen Wirtschaft einen neuen Impuls geben wird, lässt sich ohnehin nicht vorhersehen. Dementsprechend schlecht kann man sich auch darauf vorbereiten. „Was Österreich und Europa aber tun können“, betont der IHS-Chef, „ist, dafür zu sorgen, dass es eine gute Arbeitskräftebasis gibt, die es erlaubt, von der neuen Innovation, wenn sie erst einmal aufpoppt, zu profitieren und im Optimalfall die Marktführerschaft zu übernehmen.“

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