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Die Zukunft des Green Deal

Der Europäische Green Deal war das wichtigste Projekt der amtierenden EU-Kommission. Doch wie wird es nach der Europa-Wahl weitergehen? Wie können die in der aktuellen Legislaturperiode beschlossenen Regelungen in die Praxis umgesetzt werden? Bleibt die grüne Wende in Fahrt – oder sind Rückschritte zu erwarten? Die StromLinie hat nachgefragt. Eine Zusammenschau in vier Kapiteln.

Ursula von der Leyen,  EU-Kommissionspräsidentin

„Mit Blick auf den europäischen Grünen Deal heißt das: Wir bleiben auf Kurs. Wir bleiben ehrgeizig.“
 

Ursula von der Leyen EU-Kommissionspräsidentin

Kapitel 1: Die Weichen sind gestellt

Ist die grüne Transformation umkehrbar?

Um prägnante Worte ist EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen selten verlegen. Als sie im Dezember 2019 den European Green Deal vorstellte, bezeichnete sie ihn als ein Projekt, das für die Menschheitsgeschichte einmal so wichtig sein würde wie die Mondlandung. Fast vier Jahre später, im Herbst 2023, sprach sie in ihrer Rede zur Lage Europas von der Realität eines Planeten, der kocht und davon, dass der Europäische Green Deal aus der Notwendigkeit geboren wurde, diesen Planeten zu schützen: „Mit Blick auf den europäischen Grünen Deal heißt das: Wir bleiben auf Kurs. Wir bleiben ehrgeizig.“

Othmar Karas, Vizepräsident des Europäischen Parlaments
„Wir sind bei der Umsetzung des Green Deal nicht schlecht unterwegs.“ Othmar Karas Vizepräsident des Europäischen Parlaments

Denn von einem ist die Kommissionspräsidentin, da sind sich Beobachter einig, überzeugt: Wie immer auch die zukünftige Europäische Kommission zusammengesetzt sein wird, wer immer in der kommenden Legislaturperiode an der Spitze der europäischen Politik stehen wird, sie selbst oder jemand anderer, das Bekenntnis zu einer grünen Energiewende ist ein unumkehrbares Faktum. 

Und in der Tat: In den vergangenen Jahren war die Kommission unter der Führung von Ursula von der Leyen bestrebt, so viele Rechtsakte wie möglich zu verabschieden, die den Green Deal absichern und ihn so zu einem Langfristprojekt zu machen. Das ist auch in einem beeindruckenden Maße gelungen. Achtzehn von neunzehn jener EU-Gesetze, die für das Klimaschutzpaket Fit for 55 notwendig sind, wurden unter von der Leyens Präsidentschaft beschlossen. Mit einem Paket wurden in den verschiedenen Sektoren Maßnahmen rechtlich verankert, damit das Gesamtziel der CO2-Reduktion von 55 Prozent bis zum Jahr 2030 erreicht werden kann.

„Wir sind bei der Umsetzung des Green Deal nicht schlecht unterwegs“, urteilt daher Othmar Karas, Vizepräsident des Europäischen Parlaments. „Überall, wo das Europaparlament mitentscheidungsberechtigt ist, haben wir unsere Hausaufgaben gemacht. Nur noch die Energiebesteuerungsrichtlinie fehlt, die ist rein Sache der Mitgliedsstaaten und erfordert eine einstimmige Entscheidung im Rat. Das macht es so schwierig.“

Es stimme aber, dass es auch Versuche gibt, den Green Deal zu verlangsamen, zu verschleppen. Deshalb plädiere er dafür, das gemeinsame Ziel der Klimaneutralität bis 2050 und das Bekenntnis zur grünen Transformation politisch außer Streit zu stellen. „Dabei müssen wir dafür sorgen, dass der Green Deal auch ein Deal für unsere Wirtschaft ist.“

 

Kapitel 2: Gefahr eines gefährlichen Cocktails

Sind Anpassungen unvermeidlich?

Doch der Teufel steckt wie so oft im Detail. Darauf verweist unter anderem auch Kristian Ruby, Generalsekretär der europäischen Interessenvertretung der Elektrizitätswirtschaft Eurelectric. In den vergangenen fünf Jahren, sagt er, wurden auf europäischer Ebene viele Regelungen beschlossen, deren Ziele richtig sind. Bei dem Reichtum an Fragen, die da geregelt werden, sind aber im Detail Vorgaben entstanden, die sich teilweise widersprechen. „Wir wissen auch noch nicht, wie sich die einzelnen Elemente der europäischen Klimapolitik gegenseitig beeinflussen werden, da kann es auch zu Cocktail-Effekten kommen, die so nicht gewünscht waren“, urteilt er. Das müsse man beobachten und notfalls auch zu Korrekturen bereit sein.

Kristian Ruby, Generalsekretär Eurelectric
„Wir wissen noch nicht, wie sich die einzelnen Elemente der europäischen Klimapolitik gegenseitig beeinflussen werden. Da kann es auch zu ungewünschten Cocktail-Effekten kommen.“ Kristian Ruby Generalsekretär Eurelectric

Dass manches, was aus dem Wunsch heraus, den Green Deal für die nächste Legislaturperiode abzusichern, beschlossen wurde, sich in der praktischen Umsetzung als schwierig erweist, ist kein Geheimnis. Und dabei geht es nicht nur um die mangelnde Bereitschaft der einzelnen Mitgliedstaaten, europäisches Recht in nationale Regelungen überzuführen. Oft gehen die Unvereinbarkeiten tiefer. Wenn etwa der Ausbau von PV-Anlagen massiv gefördert wird, andererseits aber die Infrastruktur fehlt, um diese volatile Energie in das Stromsystem zu integrieren, dann entsteht ein strukturelles Problem, das mit jedem kW installierter PV-Leistung größer wird. „Fehlen mit dem Ausstieg aus Kohle, in manchen Ländern auch aus Atom, Kraftwerke, die die Grundlast übernehmen können und geht der Ausbau von Speichern oder anderen Flexibilitätstools nicht schnell genug, dann entsteht im Gesamtsystem ein Ungleichgewicht“, fasst Ruby die Situation zusammen. Regelungen zu finden, die solche Ungleichheiten minimieren, dürfte daher eine der großen Aufgaben für die nächste Legislaturperiode werden. 

Zugleich wird es aber wichtig sein, auch in Zukunft den Mitgliedstaaten offen zu lassen, auf welchem Weg sie die Dekarbonisierung ihrer Stromsysteme erreichen wollen. Länder wie Finnland oder Frankreich, deren Wärmeproduktion sehr stark elektrifiziert ist und die schon seit Langem auf Atomkraft setzen, werden wohl auch in Zukunft in diese Richtung gehen. Staaten ohne entsprechendes Know-how oder mit einer stark ausgeprägten Skepsis gegen Atomenergie wie Österreich oder Deutschland wohl nicht. 

Wobei Atomkraft abseits von Sicherheitsfragen noch eine andere problematische Komponente hat, wie die Geopolitikexpertin und frühere Direktorin des Österreichischen Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik Velina Tchakarova betont: „Ein wesentlicher Anteil der in der Europäischen Union verwendeten Kernbrennstoffe stammt aus Russland. Im Jahr 2023 verdoppelte die EU sogar ihre Einkäufe von russischem Kernbrennstoff. Das zeigt die komplexe und widersprüchliche Natur der europäischen Energiepolitik.“

 

Kapitel 3: Infrastruktur, Flexibilität, Innovation, Versorgungssicherheit 

Bei welchen Fragen ist Eile geboten?

Bei einem Riesenprojekt wie der Energiewende sind Widersprüche allerdings unvermeidlich. Schließlich handelt es sich dabei um die möglicherweise größte Transformation der europäischen Wirtschaft seit ihrem Bestehen, ganz sicher aber seit der Industrialisierung. Während heute Erneuerbare Energien rund ein Viertel des europäischen Gesamtenergiebedarfs abdecken, soll es bis 2050 in Richtung hundert Prozent gehen. Das erfordert gigantischen Ausbau nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Infrastruktur.

Barbara Steffner, Leiterin Wirtschaft und Soziales bei der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich
„Der Hochlauf der Wasserstoff-Wirtschaft wird ein wichtiges Zukunftsthema sein.“ Barbara Steffner Leiterin Wirtschaft und Soziales bei der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich

Damit die Energiewende funktioniert, wird daher neben dem Ausbau der Netze auch ihre Flexibilisierung eine der großen Herausforderungen sein, denen sich die zukünftige EU-Kommission stellen wird müssen. Die derzeit existierenden Speicherkapazitäten von rund 51.000 MW müssen bis 2030 auf 190.000 MW nahezu vervierfacht werden. 

Eine Möglichkeit, die Netze besser zu nutzen und vor Überlastung zu schützen, wären auch flexible Anschlusskontrakte, die es erlauben, die Einspeise- oder Entnahmeleistung zeitweilig zu begrenzen. Dazu sind allerdings entsprechende gesetzliche Regelungen in den Einzelstaaten nötig. In Österreich geht man mit der Möglichkeit zur zeitlich beschränkten Lastspitzenkappung, die im Rahmen des neuen Elektrizitätswirtschaftsgesetzes festgeschrieben werden soll, zumindest ein Stück in diese Richtung. 

Zwei weitere Flexibilitätsbeschaffer werden auf europäischer Ebene in Zukunft auch Batteriespeicher und grüner Wasserstoff werden. „Der Hochlauf der Wasserstoff-Wirtschaft wird sicher ein wichtiges Zukunftsthema sein“, bestätigt Barbara Steffner, Leiterin Wirtschaft und Soziales bei der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich, „einerseits die Errichtung von Elektrolyseuren, andererseits die Umgestaltung des Gasnetzes.“ Zugleich macht sie auch darauf aufmerksam, dass mit der seit 2021 bestehenden Aufbau- und Resilienzfazilität ein wichtiger Baustein zur Beschleunigung des grünen Wandels und der Energiewende in Europa mit einem Volumen von 225 Milliarden zur Verfügung steht. Die Mittel sind für Maßnahmen veranschlagt, die bis 2026 abgeschlossen sein müssen. 

Neben Innovation wird auch das Thema Versorgungssicherheit noch stärker als bisher in den Fokus rücken müssen, sagt Eurelectric Generalsekretär Kristian Ruby. „Dekarbonisierung durch Elektrifizierung ist ohne Frage die kostengünstigste Möglichkeit, dem Klimawandel entgegenzutreten. Um die Klimaneutralität 2050 zu erreichen, bedeutet das aber, dass schon 2040 in Europa die Hälfte der benötigten Energie aus Strom stammen muss.“ 

Da stelle sich schon auch die Frage, wie man es schafft, diesen Strom nicht nur zu produzieren, sondern auch zu verteilen. „Bislang sind Netzausbauprojekte eher mit Horizonten von drei bis fünf Jahren geplant worden, doch heute sollten wir mindestens zehn, wenn nicht zwanzig Jahre vorausdenken. Wenn die Netze dabei um eine Spur überdimensioniert werden, ist das bei Weitem nicht so schlimm wie eine Unterdimensionierung, weil die Zahl der anschlusswilligen Anlagenbetreiber ja ständig wächst.“

 

Kapitel 4: Strategische Partnerschaften auf breiter Basis

Wie kann sich Europa vor neuen Abhängigkeiten schützen?

Versorgungssicherheit meint aber auch Energieunabhängigkeit. Und auch auf diesem Feld bleibt für die kommende EU-Kommission viel zu tun. Wohl hat die EU schon jetzt als Folge des Green Deal Fortschritte in ihren Bemühungen um Energie-Unabhängigkeit gemacht und neben dem Ausbau der Erneuerbaren auch die Bezugsquellen für Gas diversifiziert, indem man alternative Pipelines und LNG-Importterminals entwickelte. Norwegen, USA und Katar rückten dabei als Bezugsquellen in den Vordergrund. 

Velina Tchakarova, Geopolitikexpertin
„Europa zahlte seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine fast 190 Milliarden Euro für russische fossile Brennstoffe und ist immer noch der kollektive Importeur Nummer eins.“ Velina Tchakarova Geopolitikexpertin

Geschafft ist der Ausstieg aus russischen Energielieferungen aber bei Weitem noch nicht, wie die Geopolitik-Expertin Tchakarova betont. Die europäische Stromproduktion wird weiterhin Gas brauchen, um die Netze stabil zu halten und nach wie vor kommt ein beträchtlicher Teil davon aus Russland. Erst recht von russischem Gas abhängig ist vielerorts die Wärmeerzeugung und die Industrie. „Europa zahlte seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine fast 190 Milliarden Euro für russische fossile Brennstoffe und ist immer noch der kollektive Importeur Nummer eins“, sagt Tchakarova. Trotz eines Rückgangs der direkten Exporteinnahmen in die EU um 90 Prozent, generiert Russland durch Umleitung seiner Energieexporte über Drittländer nach wie vor beträchtliche Einnahmen von etwa 560 Millionen Euro pro Tag aus dem Verkauf von fossilen Brennstoffen, wie aus Angaben des Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) hervorgeht. 

„Die anhaltend angespannte geopolitische Lage durch den russischen Krieg gegen die Ukraine verlangt nach kontinuierlichen, entschlossenen und innovativen Maßnahmen zur Sicherung der europäischen Energieunabhängigkeit und -sicherheit“, urteilt daher Tchakarova. Zugleich gelte es aber auch, nicht in neue Abhängigkeiten zu geraten, etwa von China, das einen 98-prozentigen Anteil an der Versorgung Europas mit Seltenen Erden hat und generell in der globalen Lieferkette für Erneuerbare Energien eine zentrale Rolle spielt. „Auch die Abhängigkeit von externen Wasserstoffquellen könnte geopolitische und wirtschaftliche Risiken mit sich bringen, ähnlich denen, die derzeit durch die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland bestehen.“

Der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Othmar Karas, teilt diese Bedenken, weist allerdings auch darauf hin, dass Europa derzeit eine ganze Reihe von Anstrengungen unternimmt, um neuerliche Abhängigkeitsszenarien zu verhindern: „Da passiert schon mehr, als vielen bekannt und bewusst ist.“

So habe die EU zum Beispiel damit begonnen, das Instrument der strategischen Partnerschaften zu nutzen, um die Zusammenarbeit mit Drittländern zu verbessern, die für die künftige Energie-Sicherheit in Europa eine Rolle spielen können. Im Jahr 2021 unterzeichnete man Absichtserklärungen für eine strategische Partnerschaft mit Kanada und der Ukraine. Im Jahr 2022 wurden ähnliche Abkommen mit Namibia und Kasachstan geschlossen, gefolgt von weiteren Partnerschaften im Jahr 2023 mit Argentinien, Chile, Sambia und der Demokratischen Republik Kongo.

„Der neue Handelsvertrag mit Chile etwa hat eine starke Rohstoffkomponente und wird unsere Versorgung mit Lithium und grünem Wasserstoff verbessern“, erklärt Karas. Auch mit Norwegen und Australien wird eine strategische Partnerschaft angestrebt. Zugleich beginnt Europa dort, wo das möglich ist, wieder selbst Rohstoffe, die für die grüne Transformation wichtig sind, abzubauen, etwa Magnesium in Rumänien.

Schutzzölle, die ebenfalls immer wieder in der Diskussion um Europas Energie-Resilienz auftauchen, sieht Karas zwar kritisch, ganz ausschließen will er aber auch den Einsatz dieses Instruments nicht: „Schutzzölle sollten immer nur das äußerste Mittel sein. Doch wir können uns nicht sehenden Auges unsere Unternehmen von illegalen chinesischen Subventionen für chinesische Firmen kaputtmachen lassen, die dann womöglich unter dem wirklichen Erzeugungspreis unseren Markt fluten, sei es bei Elektroautos oder bei anderen Erzeugnissen.“

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